Der Plattenmarkt 1972

Bevor ich die SHIROKKO-Chronik mit dem Jahr 1972 weiterführe, möchte ich Euch die damaligen Zustände auf dem „Musikmarkt“ schildern, wie es in Plattenläden und in der Plattenindustrie ausgesehen hat.

Münchner Plattenläden Anfang der 70er Jahre

Es klingt unglaublich, aber noch Ende der 60er Jahre gab es in München keinen einzigen reinen Plattenladen! Wollte man Platten kaufen, mußte man schon eines der Elektrogeschäfte wie Lindberg (in der Sonnenstraße und in der Kaufingerstraße, neben dem Kaufhof), zu Radio Schütze, ebenfalls in der Sonnenstraße, zu Holzinger am Marienplatz (dort wo jetzt die Deutsche Bank ist) oder zu RIM in der Theatinerstraße. Manche kleineren Händler hatten allenfalls einen kleinen Ständer mit Singles auf der Theke.
Damals teilte man noch ein in E- und U-Musik, die Läden hatten eine Klassikabteilung und eine mit Unterhaltungsmusik. Was sie darunter verstanden, läßt sich an den Hitparaden gut ablesen, gefragt waren James Last und Roy Black. Natürlich hatten sie auch Beatles und Stones im Angebot, aber weniger bekannte Gruppen suchte man vergeblich, ebenso wie fachkundige Bedienung. Bei Holzinger mußte man sich bei Verkäuferinnen in Kittelschürzen anmelden, wenn man Platten mit in die Hörkabine nehmen wollte. Aber immer nur drei Stück!

Dies änderte sich natürlich bald, denn nicht nur wir waren von der Aufbruchstimmung erfaßt. Ab dem Jahr  1972 eröffneten in der Adalbert-/Ecke Türkenstraße der Melody Maker, in der Augustenstraße die Discothek 2001, beides inhabergeführte Läden, dazu das Disco Center mit zwei Filialen, in der Sonnenstraße und am Marienplatz. Eigentlich waren all diese Läden ja schon zu spät dran, denn die Preisbindung war gefallen und es zeichnete sich bereits ab, daß man mit Schallplatten nicht mehr so viel Geld verdienen konnte als früher. Aber die Musikszene sollte sich ja grundlegend verändern – die Verkaufszahlen von LPs explodierten förmlich!
Wohl deshalb schlugen nun Filialisten und Preisbrecher auch in München ihre Zelte auf, wie beispielsweise montanus in der Leopoldstraße und, ab 1974, die norddeutsche Kette govi in der Sendlingerstraße, Mitte der 70er Jahre kam auch noch Zweitausendeins hinzu. Trotz der  Ausverkaufspreise war diese Firma aber sehr sympathisch, schon allein wegen des nett gemachten Merkhefts mit der Schlußkolumne von Frau Susemihl – und wegen der tollen Buchveröffentlichungen.

Auch Saturn eröffnete nun eigene Plattenabteilungen, gefolgt von Kaufhof und Karstadt. Noch 1982, als bereits die CD im Kommen war, eröffnete das WOM in der Kaufingerstraße – als Plattenladen! Dieser allerdings war wegen seiner Riesenauswahl legendär, um nicht zu sagen: unschlagbar.

Das beweist, daß es diesen Läden (abgesehen von den wenigen privat geführten) schon damals nicht in erster Linie darum ging, Kultur zu verbreiten, sondern Geld zu verdienen. Mit Unterstützung der Medien, die allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachten, war aus der ehemaligen Marktnische ein Massenmarkt geworden. Von Verkaufszahlen, wie sie Pink Floyd, Santana oder auch die Bee Gees nun erreichten, hätten die Beatles und die Stones früher nur träumen können. Schließlich waren die 70er Jahre auch ein Jahrzehnt mit zunehmender Kaufkraft, die vormals jugendlichen Fans waren nun erwachsen geworden, hatten Jobs, verdienten ihr eigenes Geld.

Wir im SHIROKKO haben uns jedoch kategorisch gegen den Mainstream gewehrt (Ausnahmen bestätigen die Regel), haben unsere Idee aufrecht erhalten und nicht dem finanziellen Erfolg geopfert. Wir können mit Recht stolz darauf sein, daß wir einen anderen Weg eingeschlagen hatten und diesen bis zum Schluß auch durchgehalten haben.

 

 

Die Plattenindustrie Anfang der 70er Jahre

In Deutschland gab es damals nur sehr wenige einheimische Plattenfirmen. Marktführer war die Deutsche Grammophon mit ihrem U-Musik-Ableger Polydor. In München gab es die Ariola, in Hamburg die Metronome und Telefunken, in Köln die Electrola, dazu noch Intercord und Bellaphon.
Dazu gab es internationale Firmen wie CBS oder United Artists, diese wurden jedoch eher als regionale Filialen betrachtet, die dem Mutterkonzern unterstanden.
Und es gab ein paar wenige eigenständige Labels wie z.B. Kuckuck, ohr, mps, nicht zu vergessen die 1969 gegründete Firma ECM – aber das wird noch eine ganz eigene und lange Geschichte…

Kein Vergleich also zu den USA und vor allem zu England, wo schon seit Jahren Labels wie Island, Vertigo, Charisma etc. existierten, die musikalisch wie optisch eine eigene Identität, ein erkennbares Profil besaßen. Und die vor allem eines waren: innovativ!

Innovativ und progressiv waren jedenfalls Fremdworte in der deutschen Plattenindustrie. So waren wir gezwungen, unsere Platten selbst zu importieren. Wir hatten Lieferanten in England, es gab einen kleinen Importeur in Bochum – und es gab
Helmut Marcuse
Herr Marcuse stammte aus Frankfurt, er hatte einen amerikanischen custom-made-Van, wahrscheinlich ein Chevy, jedenfalls größer als ein Ford Transit. An den Seitenwänden jeweils drei Regale mit Schallplatten, die mit Eisenstäben vor dem Herausfallen gesichert waren. Ebenfalls im Auto hatte Herr Marcuse eine Standheizung und einen kleinen Kühlschrank, in dem er seinen geliebten Whisky aufbewahrte. Und er hatte einen 8track-player! (8tracks waren eine Art überdimensionale Musicassetten mit einem komplizierten Endlosband-System)
Derart ausgestattet tingelte er mit seiner tonnenschweren Fracht durch Deutschland und versorgte die Plattenläden mit Ware, die er bevorzugt in Amerika und in Frankreich organisierte. Auf diese Weise sind wir erstmals mit Labels wie Arion und Le Chant du Monde in Berührung gekommen, auf diese Weise lernten wir Musiker wie Astor Piazzolla oder Jorge Cafrune kennen.
Wenn Herr Marcuse sich ankündigte, waren Überstunden angesagt – denn wir krochen stundenlang, teilweise auf Knien, durch sein Fahrzeug, nahmen eine Platte nach der anderen aus dem Regal. Schließlich schleppten wir die erbeuteten LPs wie einen wertvollen Schatz in den Laden.
Bis in die frühen 80er Jahre war Herr Marcuse für uns ein ebenso liebenswerter wie wichtiger Geschäftspartner, wenngleich seine Auswahl immer mehr an Bedeutung verlor.

Denn die deutsche Plattenindustrie war zwar schwerfällig und ignorant, aber keineswegs blöd.
Recht bald erkannte sie, daß im Ausland wichtigere Platten veröffentlicht wurden als im Inland, nun fertigte sie die Platten in Lizenz. Typisches Beispiel ist die Firma Ariola, die das Label Island unter Vertrag nahm, die Originalhüllen mit eigener Bestellnummer überklebte. Oft wurden für die „Nachpressung“ eher zweitklassige Matrizen und teils auch minderwertiges Material verwendet. So kommt es, daß ernsthafte Sammler heute besonderen Wert auf Erstpressungen legen, die einen deutlich höheren Wert haben.

 

Wir haben an unserem schwarzen Brett diese „Todesanzeige“ angebracht und den „Ausverkauf“ des Kultlabels Island ziemlich betrauert.
(Anmerkung: das Label existiert heute noch…)

 

 

 

Es bildeten sich nun auch Importabteilungen, die interessante Titel anboten und damit Eigenimporte unattraktiv machen sollten, zumal es damals schon Grauimporte, Schwarzpressungen und auch Bootlegs en masse gab. Ein Bootleg ist eine inoffizielle Veröffentlichung, der Name kommt aus Amerika, wo man während der Prohibition Schnapsflaschen im Stiefelschaft (bootleg) schmuggelte. Bootlegs waren meist eher minderwertig klingende private Live-Mitschnitte, die wegen der geringen Auflage aber begehrte Sammlerstücke wurden.


In der Zeitschrift Sounds erscheint eine Übersicht der wichtigsten Bootlegs.

Und es heißt da: „Kaufen kann man sie entweder per Postversand oder Deckadressen, oder auch bei jenen großen Schallplatten-Einzelhandelsgeschäften, die eine strafrechtliche Verfolgung durch die Industrie dank ihrer Umsatzstärke nicht zu fürchten brauchen.“

 

 

 

 

Tatsächlich erscheint ebenfalls im Sounds folgende Anzeige, wo ganz offen für Raubplatten und Raubdrucke geworben wird. Ob die Betreiber Ärger bekamen, weiß ich nicht. Wir jedenfalls haben für ein paar verkaufte Bootlegs ganz schön geblecht…

 

 

 

 

 

Neben den Bootlegs tauchen auch vermehrt Raubpressungen und illegale Importe auf. Ein besonders köstliches Beispiel ist diese israelische Pressung von Neil Young’s Harvest, wo bereits auf die Folie das Wort Fälschung aufgedruckt ist.

 

 

Der Importservice von Telefunken hieß nun TIS, der von Polydor IMS, der von Electrola ASD und der von Ariola ARIS. Besonders schnell waren sie aber nicht, es dauerte oft Monate, bis eine Platte verfügbar war. So bot beispielsweise die Teldec in ihren „Rock News 1972“ eine Platte von Jefferson Airplane an, Volunteers, die in den USA schon 1969 erschienen war!

Dennoch gingen wir zu den Händlerabenden, die von einigen Importfirmen veranstaltet wurden. Sie fanden meist in Hotels statt und man konnte die Platten direkt vor Ort absortieren. An einem dieser Händlerabende nahmen wir im Dreierpack teil, Irmgard, ich und Klaus-Dieter Schreiber, der einen unsäglichen hellblau/dunkelblau gestreiften Kunstfaserplüschmantel trug. Derart verkleidet präsentierten wir uns als ‚enfants terribles‘ der Szene. So ganz ernst genommen hat man uns wohl nicht, aber Aufsehen haben wir jedenfalls erregt.

Weil wir im SHIROKKO aber nicht warten wollten, bis ein Vertreter kommt oder ein Händlerabend stattfindet, suchten wir unsere Informationen in Fachzeitschriften wie Melody Maker und New Musical Express. Deshalb waren wir auch hier den anderen immer um eine Nasenlänge voraus, auch wenn es kein Fax, keinen Computer, kein Internet gab. Vielleicht gerade deshalb?

Alsbald begann in der Plattenindustrie die Fusionswelle, die Geldgier nahm zu. Manche Firmen begannen branchenfremde Manager einzustellen, die sich andernorts mit Gewinnmaximierung bewährt hatten. Um Musik ging es da schon gar nicht mehr hauptsächlich, ganz im Gegenteil. Man verfolgte die Maxime: unsere Leute sollen die Musik verkaufen, nicht bewerten. Je weniger persönlichen Geschmack sie dabei einsetzen, desto besser.

Aus unserem kleinen Pflänzchen Popmusik war plötzlich ein Wildwuchs entstanden, eine Wirtspflanze, die viele Parasiten ernährte. Etwas ketzerisch habe ich damals behauptet
„jeder der einen Plattenspieler unfallfrei bedienen kann, bekommt einen gutbezahlten Job“,
und in der SHIROKKO-INFO von 1971 hatte ich u.a. geschrieben „an maßgeblichen Stellen der Industrie sitzen erschreckend viele Leute, die keine blasse Ahnung von Pop-Musik haben. Das Schlimme daran ist, daß sie meist gar kein Interesse daran haben, diesen Rückstand aufzuholen“

Mit solchen Sätzen haben wir uns natürlich keine Freunde gemacht – aber das war auch nicht unsere Absicht. Unsere kritische Haltung wurde eher noch größer, wie Ihr aus so manchem Text ersehen werdet, der hier noch zu lesen sein wird.

Für heute jedenfalls ist zunächst Schluß mit der Kritik. Wir haben schließlich erstmal das Jahr 1972 aufzuarbeiten, und da ist einiges passiert. Bitte hier weiterlesen

Gerhard Rühl, 20. März 2017

 

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