Bob Weir, Gitarrist und Sänger von Grateful Dead, wird am 16. Oktober 2017 siebzig Jahre alt. Ich nehme dies zum Anlaß, „meine“ Erlebnisse mit dieser Band und ihrer Geschichte zu erzählen. Einer Geschichte, die weit über die Bedeutung der Musik hinausgeht, die Ausdruck einer Bewegung, einer Message und eines sozialen Bewußtseins ist.
Eine Vorbemerkung:
Solltet Ihr selbst Grateful-Dead-Fans sein, wird hier vielleicht so manche Erinnerung wiedererweckt.
Solltet Ihr keine Grateful-Dead-Fans sein, habe ich dafür auch volles Verständnis.
Solltet Ihr Grateful-Dead-Fans werden wollen, werdet Ihr durch meinen Text vielleicht inspiriert?
Im Anhang habe ich ein paar Videos ausgesucht, die Euch auf den Geschmack bringen könnten…
Inhalt: Die Band|Die Musik |Der Sound|
Die Konzerte |Das Design|Deadheads |
Links |Discographie | Videos
Playin’ In The Band
1965 gründeten in Haight-Ashbury, dem Hippie-Viertel von San Francisco, Jerry Garcia, Bob Weir, Phil Lesh, Ron ‚Pigpen‘ McKernan und Bill Kreutzmann die Band Grateful Dead. Die dankbaren Toten. Dabei war der Tod ihnen gegenüber nicht gnädig. Pigpen starb mit 27 Jahren, seine Nachfolger Keith Godchaux mit 32, Brent Mydland mit 37.
Zum Kern der Band stieß später noch Mickey Hart als zweiter (!) Schlagzeuger hinzu.
Die Musiker kamen aus durchaus unterschiedlichen Lagern, zeitweise spielten sie in weiteren Bands, fungierten als Studiomusiker oder realisierten eigene Projekte (wie z.B. Mickey Hart mit ‚Planet Drum‘). So läßt sich auch die Musik der Dead, wie sie von Fans liebevoll genannt werden, nicht klar definieren – sie reicht von Blues über Country-Elemente bis hin zu Rock ’n‘ Roll, garniert mit elektronischen Klängen, mit denen Bassist Phil Lesh schon früh experimentierte. Legendär sind jedenfalls die langen improvisierten Passagen, die zumeist in druckvollem Rock mündeten – und über allem stand die glockenhelle Gitarre von Jerry Garcia.
Unser Held, unser Darling war stets der jugendlich charmante Bob Weir, der mit seinem Gesang und seiner dominanten Rhythmusgitarre der Band enorme Power verlieh.
Truckin’
1966 veröffentlichten die Dead ihr erstes Studioalbum. Es sollten noch acht weitere großartige Alben folgen, ehe die Band einen Vertrag bei Arista unterschrieb und damit gezwungen wurde, sich dem mainstream zu nähern – ein hoffnungsloser und vergeblicher Versuch.
Denn die Dead waren in erster Linie eine Live-Band. Im Lauf ihrer Karriere gaben sie an die 3.000 Konzerte, die nicht selten über vier Stunden dauerten. Sie spielten bei Straßenfesten und auf Demos, sie traten auf großen Festivals auf, in Woodstock, in Altamont oder in Watkins Glen (vor 600.000 Zuschauern).
Grateful Dead waren ein bedeutender Teil der kalifornischen Musikszene. Nicht so politisch wie Jefferson Airplane, nicht so sarkastisch wie Frank Zappa, mit nicht so vielen Hits ausgestattet wie die Doors.
Aber sie waren die allgegenwärtige Band in San Francisco, sie waren die Band von nebenan. Ohne Starallüren waren sie stets ihren Fans sehr nahe, sie machten Produktionsabläufe ebenso öffentlich wie persönliche Infos.
Ihre Heimspiele absolvierten sie im Fillmore East, im Winterland und im Avalon Ballroom. Dort fanden regelmäßig Konzerte mit Bands verschiedenster Herkunft statt, vom Country-Blues bis zum Jazz war alles zu hören und zu bewundern. Was für eine großartige Zeit, in der Musik nicht nur der Unterhaltung diente, sondern auch ein Statement war. Es konnte leicht passieren, daß man bei einem Dead-Konzert Miles Davis zu hören bekam – und umgekehrt. Die Musikfans hatten einen ziemlich weiten Horizont!
(diese Plakate bekam man man im Postkartenformat per Post zugeschickt!)
Design
Wie man an den Plakaten sieht, haben sich die Dead auch optisch stets am Zeitgeist orientiert, die Posterkunst der 60er Jahre war legendär mit ihren oft am Jugendstil orientierten ornamentalen Strukturen. Die meisten Designs stammten vom Duo Mouse & Kelley, die eine ganz eigene künstlerische Handschrift entwickelten. Diese hier darzustellen, würde den Rahmen sprengen. Geben Sie doch einfach mal „Mouse and Kelley“ in eine Suchmaschine ein, sie werden Hunderte von Einträgen finden.
Mouse & Kelley hatten auch eine eigene Firma, Monster Productions, mit weltweitem Versand…
Ein Design sei hier besonders erwähnt: das des 1971 erschienenen Livealbums „Grateful Dead“, bei Fans „Skull And Roses“ genannt. Wir hatten dieses Design als Aufkleber, als Anstecker, als Aufnäher, als T-Shirt – und ich habe es schließlich auf einen Durchmesser von 90 Zentimetern vergrößert und nachgemalt.
Damit waren die Dead nicht nur optisch unverwechselbar, sie tüftelten auch an einem neuen Soundsystem, der
Wall Of Sound
Sie ließen sich eine gigantische Verstärkeranlage mit 48 Verstärkern und 640 Lautsprechern bauen, Gesamtleistung über 26.000 Watt! Zum Vergleich: 1966 traten die Beatles im Circus-Krone-Bau auf, jeder Musiker hatte einen 100-Watt-Verstärker mit zugehöriger Box. Drei Jahre später schrieb ich in einem Bericht über Chicken Shack, ebenfalls im Krone: „sie jagten 600 Watt durch den Raum“. Sechshundert Watt!
Dabei ging es Grateful Dead aber nicht primär um Lautstärke, sondern um Transparenz. Jedes einzelne Instrument wurde über ein eigenes Soundsystem mit eigenem Stromkreis verstärkt. Dazu noch einige Neuerungen wie Mikrofone, die die Umweltgeräusche herausfilterten oder ein quadrofonischer Bass, bei dem jede Saite über einen eigenen Kanal wiedergegeben wurde.
Was heute vielleicht „normal“ erscheint, war für die damalige Zeit jedenfalls eine absolute Sensation.
Dieses 72 Tonnen schwere Equipment führte dazu, daß die Musik noch in 200 Meter Entfernung in ausgezeichneter Qualität zu hören war – und daß Konzerte von Grateful Dead auch akustisch absolute Ereignisse wurden. Rituale, die die Fans weltweit magisch anzogen und sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft von Pilgern machten.
Die Konzerte
Wir waren Dead-Fans der ersten Stunde, vom psychedelischen Beginn bis hin zum hymnischen Song Dark Star aus dem 1969er Album Live/Dead. Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül, saß regelmäßig im kunstledernen Sitzsack im SHIROKKO und musterte jeden Kunden, indem er über seine Brille schielte und dabei fragte „stehst du auf die Dead?“.
1972 spielten Grateful Dead im Kongreßsaal des Deutschen Museums. Weil wir diesen wegen diverser unschöner Vorfälle boykottierten (dazu gibt es bald eine eigene Geschichte), waren wir konsequent und gingen nicht zum Konzert. Der reine Masochismus! Noch dazu, als wir anschließend die Kritiken lesen mußten. Karl Bruckmaier schrieb in der SZ: „Die Musik dieser Gruppe ist zeitlos geworden, hat sich von den Zwängen der Modernität befreit und gehört jetzt zur internationalen Kultur“.
Werner Burkhardt, derselbe Werner Burkhardt, der Pink Floyd der „hohlen Halbbildung“ bezichtigt hatte, schrieb über den Dead-Auftritt „Fabelhaft ist dieser Konzert gewesen, außergewöhnlich und überragend“.
Lediglich ein gewisser Rainer Langhans meinte: „Man hört diese Musik und ist enttäuscht – einfach nur Musik, Rockmusik, Nummernmusik, quer durch den ganzen Musikgarten, mehr zum Vorbeigehen, Musik von nebenan“.
Anmerkung: wie großartig die Konzerte wirklich waren, läßt sich auf dem 3-fach-Album „Europe ‘72“ nachhören.
Zwei Jahre später war es dann soweit: Grateful Dead kamen erneut nach München. Diesmal in die Olympiahalle, diesmal waren wir natürlich dabei. Ein eindrucksvolles Konzert, leider eher schwach besucht, aber über vier Stunden lang ein einziges Happening, um nicht zu sagen ein einziger Trip. Man hatte Rucksäcke dabei, darin jede Menge zu essen, zu trinken und zu rauchen. Ich hatte auch einen Block mitgenommen, um die Songtitel mitzuschreiben…
Bei den Konzerten gab es Stände, an denen Sammlerstücke verteilt wurden, wie beispielsweise Coverabbildungen im Postkartenformat. Es wurden T-Shirts und weitere Sammlerstücke verkauft. Heute heißt das ‚merchandising‘, damals war es ein willkommener Service für Fans. Wenn man seine Adresse hinterließ, bekam man regelmäßig Post aus San Francisco.
Jetzt war man
Deadhead
So nannten sich die Fans dieser Band. Sie organisierten und vernetzten sich weltweit, ganz analog, ganz old school. Noch heute wundere ich mich, wie gut wir informiert waren, ohne Internet, ohne e-mail, ohne smartphone. Wir gaben eben unsere Informationen bereitwillig weiter und begeisterten uns gegenseitig. Wir abonnierten Zeitschriften wie Relix und Dark Star, wir lasen das Dead Book…
Vor allem aber schickten wir uns gegenseitig Musicassetten mit Liveaufnahmen von Grateful Dead, die wir selbst vervielfältigt und gestaltet hatten.
Ein besonders schönes Beispiel erhielten wir von Thomas Storch, der später beim Bayerischen Rundfunk landete. Auf dem Briefumschlag hat er sich selbst porträtiert.
Diese Konzertmitschnitte waren meist von ganz erstaunlicher Qualität. Denn Grateful Dead hatten recht schnell festgestellt, daß bei jedem ihrer Auftritte Fans mit Mikrofonen und Recordern vor der Bühne standen und mitschnitten. Anstatt dies zu untersagen, richteten sie spezielle ‚tape areas‘ ein und erlaubten, daß die Mitschnitte weitergegeben werden durften (auch damals noch ganz analog). Später wurden sogar Aufnahmen direkt aus dem Mischpult veröffentlicht, sogenannte ’soundboard recordings‘.
Damit war Grateful Dead nicht nur eine wichtige Rockband, sondern auch eine ausgesprochen sozial eingestellte Gemeinschaft geworden, die auf so manche Einnahme durch Urheberrechte verzichtete und dennoch immer erfolgreicher wurde. Hätte es damals schon mp3 gegeben, bestimmt hätten die Dead auch noch USB-Sticks verteilt!?
Auf der Website www.archive.org findet man noch heute 11.000 Mitschnitte in passabler Qualität, ca. 3.000 davon aus dem soundboard!
Die komplette Discographie mit sämtlichen Livetracks findet sich auf der Website www.deaddisc.com. Und wenn man auf YouTube den Begriff ‚Grateful Dead live‘ eingibt, erhält man ca. 2.790.000 Ergebnisse, darunter einige komplette Konzerte von mehreren Stunden Dauer!
Und bei Facebook haben die Dead noch heute fast 2 Millionen Follower.
Gibt es einen besseren Beweis dafür, daß es sich bei Grateful Dead um ein Phänomen handelte, das Massen begeistert hat? Eine ähnliche Fangemeinde habe ich erst Jahrzehnte später kennen gelernt: die Leonard Cohen Community.
Ich jedenfalls bin stolz, Deadhead gewesen zu sein.
Nein, nicht: gewesen. Einmal Deadhead immer Deadhead.
Man mag es mir nachsehen. Musik ist Geschmackssache. Aber ich behaupte: die Dead waren eine der besten Bands aller Zeiten. Immerhin kann ich das meiste von Grateful Dead noch heute hören, im Unterschied zu vielem, was in den 70er Jahren veröffentlicht worden ist. Wie die Dead selbst sangen: „the music never stopped“.
So, liebe Leser. Das war sie also, „meine“ Geschichte mit Grateful Dead, die mich seit fünf Jahrzehnten begleitet. Ich habe sie nicht als „Alt-68er“ oder „Ex-Hippie“ geschrieben. Beides war ich sowieso nie, auch bin ich kein Nostalgiker. Aber die Geschichte ist für mich exemplarisch für eine extrem kommunikative Zeit. Eine Zeit, in der wir viel bewegten, erreichten und veränderten, nicht obwohl sondern weil wir so wenige Möglichkeiten hatten.
Ach ja, noch was: Bob Weir ist dann doch älter geworden, wie das Cover seiner 2016 veröffentlichten CD beweist:
Gerhard Rühl, 16. Oktober 2017
Im Anhang : die Videos, die Links, die Discographie
Die Videos (einfach auf das Vorschaubild klicken!)
Ein besonders interessantes frühes Livevideo, aufgenommen 1968 auf einer Straße in New York. Dauer 8:50 Minuten. Achtet nicht nur auf die Musiker, sondern auch auf das Publikum. Ihr werdet viele Männer in Anzug und Krawatte sehen. Deshalb ist dieses Video Ausdruck einer Zeitenwende – man spürt förmlich die Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Veränderung.
Drei Jahre später wurde der vielleicht bekannteste Dead-Song, Sugar Magnolia, von einem Fan mit schönen Standbildern aus der Hippie-Ära unterlegt.
Dauer 7:36 Minuten
Nochmals Sugar Magnolia, diesmal live eingespielt 1971 im Fillmore East. Dauer 7:11 Minuten. Leider nur mit Standbild, aber die tolle Soundqualität (soundboard recording!) beweist, wie großartig die Dead geklungen haben, als so manch andere Band noch im Klangbrei versank…
Die Liveaufnahme von „Eyes Of The World“ entstand 1977 in leider sehr schlechter Bildqualität, aber die Musik der Dead ist hier besonders kompakt.
Dauer 11:42 Minuten
1985 wurde diese Aufnahme im Oakland Coliseum gemacht, sie beeindruckt durch Bob Weirs powervolle Bühnenpräsenz (phasenweise erinnert er an Mick Jagger!) der Song „Throwing Stones“ geht nach neun Minuten in puren Rock ’n‘ Roll über: „Not Fade Away“.
Dauer 14:32 Minuten
Besonders vielschichtig und dennoch sehr kompakt klangen die Dead 1989 im Song „Fire And The Mountain“. Man beachte Phil Lesh, nun am 6-saitigen Bass. Über Bob Weirs Outfit in Muskelshirt und Shorts sollte man wohl besser gnädig hinwegsehen… Dauer 13:33 Minuten
In „Big River“, einer recht späten Aufnahme (1991), sind de Musiker zum Teil kaum wiederzuerkennen. Aber Ihr werdet zugeben: Bob Weir hat sich gut gehalten. Dauer 5:42 Minuten
Und nun nochmals, wie schon in meiner Hommage an Jerry Garcia, der krönende Abschluß: ein Live-Video des Songs Dark Star, aufgenommen 1981. Dauert 17:31 Minuten und ist jede Sekunde wert!
Die Links
Die offizielle Website von Grateful Dead : www.dead.net
Eine Verzeichnis von Livemitschnitten : www.archive.org/details/GratefulDead
Die komplette Discographie : www.deaddisc.com
Grateful Dead auf Facebook : https://www.facebook.com/gratefuldead
abschließend noch eine ausgewählte Discographie
für weitere Informationen und Hörproben bitte auf das Cover klicken!
Die Studioalben
Die drei folgenden Alben demonstrieren schon rein optisch, daß die Plattenfirma Arista versucht hatte, Grateful Dead ein „zeitgemäßes“ Image zu verleihen. Dem haben sie sich jedoch konsequent widersetzt, und so fand die Geschichte der Studioaufnahmen bald ein Ende…
Nun noch zum Abschluß die drei wichtigsten und schönsten Live-Alben:
Lieber Gerhard, lieber Gekko,
bei meiner Recherche zu GRATEFUL DEAD bin ich nun auf deinen Blog gestoßen. Sensationell!!
Ich selbst war Fan (Deadhead) so Anfang der 70er aber ich hatte dann doch die Band komplett aus den Augen verloren (mich hatte der ProgRock eingefangen), obwohl ich damals auf dem Konzert Mitte der 70er in der Münchner Olympia-Halle dabei war! Vier Freunde in einem verrosteten R4 , Übernachtung auf dem Parkplatz. Der Sound war perfekt!
Vor ca. zwei Jahren habe ich auf einem Hofflohmarkt die US-Erstpressung von WORKINGMAN’S DEAD entdeckt – sofort gekauft. Das Album lag‘ dann wiederum fast 2 Jahre unbeachtet in meinen Regal. Vor ein paar Tagen kam LP dann auf meinem Plattenteller – whow!!!
In den nächsten Tagen werde ich mich intensiver mit deinen Blog beschäftigen.
Ich hab‘ deinen Blog jetzt auf meiner Hobby-Homepage (good-vinyl.de) in der Rubrik „Musik/Links“ verlinkt.
LG
Alfred
(good-vinyl.de)