MANFRED EICHER

Im Herbst 2014 wurde ich von Journalisten des südkoreanischen Magazins „B“ (=Brand) gefragt, wer meine „musical heroes“ seien. Ich antwortete: Joe Zawinul und Manfred Eicher.
Weshalb gerade diese beiden? Es hätten ja auch Frank Zappa und Caetano Veloso sein können.
Nun, Zawinul und Eicher, der eine Musiker, der andere Produzent, verbindet mehr, als man zunächst denken würde. Beide haben eine eigene und unverwechselbare Stilistik entwickelt, sie verfolgten ihren Weg akribisch und energisch – und sie haben stets auch jungen Künstlern eine Chance gegeben.

Der Wiener Keyboarder Joe Zawinul (1932-2007) war in allen Spielarten des Jazz zuhause, im klassischen Modern Jazz des Miles Davis, im Jazz-Rock mit der Gruppe Weather Report und in der Ethno-Fusion mit afrikanischen Musikern. Mit einer ganzen Armada von elektronischen Instrumenten schuf er einen ganz eigenen und unverkennbaren Sound, und er lud immer wieder junge unbekannte Musiker in seine diversen Bands, Musiker die mittlerweile längst Stars geworden sind.

Manfred Eicher, geboren 1943 in Lindau, gründete im Jahr 1969 zusammen mit dem Geschäftsmann Karl Egger und dem Jazz-Kenner Manfred Scheffner das Label ECM. Will heißen: Edition Of Contemporary Music – ein Name voller Ambitionen, denen das Label in nunmehr fünfzig Jahren stets gerecht wurde.
Eigentlich gelernter Bassist, entdeckte Eicher früh sein Talent für Produktionen. Sein untrügliches Gespür für interessante Klänge und sein unnachahmliches Können, diese Klänge in größtmöglicher Qualität auf Tonträger zu bannen, machen ihn seither zu einem der wichtigsten Produzenten, ja zu einer der wichtigsten Figuren in der internationalen Musikwelt.
Innerhalb von zwei Jahren gelang es Manfred Eicher, Musiker für sein Label zu engagieren, die längst Superstars geworden sind und noch heute für außergewöhnliche Aufnahmen sorgen, wie z.B. Keith Jarrett, Chick Corea, Bobo Stenson, Jan Garbarek.

Die opulente „wall of tapes“ in der ECM-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, in der Hunderte von originalen master tapes ausgestellt waren, bewies: Manfred Eicher hat mit seinem Schaffen, meist unterstützt vom kürzlich verstorbenen Tontechniker Jan Erik Kongshaug, für ein musikalisches Gesamt-oeuvre gesorgt, das seinesgleichen sucht. Ich nannte die Wand damals eine „Kathedrale der Kultur“ (den Text finden Sie ganz am Ende dieser Seite).

Mit schöner Regelmäßigkeit hat ECM unter der Führung des „masterminds“ Manfred Eicher Jahr für Jahr eine gute LP bzw. CD nach der anderen veröffentlicht , der Katalog ist mittlerweile auf über 1.600 Titel angewachsen und in den Archiven dürften noch so manche Preziosen schlummern.
Damit haben sich ECM eine weltweite Fangemeinde geschaffen, Manfred Eicher wurde mit Ehrungen und Preisen nur so überhäuft. Weil ihm Aufsehen und Preisverleihungen aber nicht so wichtig sind wie seine Arbeit, ist er scheinbar völlig unbeeindruckt stets weiter dabei, für herausragende Aufnahmen zu sorgen.

Die Bandbreite der Musik von ECM reicht von Free Jazz bis zu zeitgenössischer Klassik, von traditionell eingefärbten Titeln bis hin zu modernsten Klängen. Sie ist damit nicht einzuengen, der musikalische Horizont von Manfred Eicher und seinem Team scheint unbegrenzt.
Eines ist jedoch allen Aufnahmen gemeinsam: eine maximale musikalische Qualität und ein höchstmögliches Maß, die Musik, sei sie nun im Studio oder im Konzert aufgenommen, dem Hörer in naturgetreuer Transparenz näher zu bringen. Manfred Eicher versteht es meisterhaft, passende Mikrofone auszuwählen und so zu positionieren, bis der Klang optimal ist. So ist jede einzelne Aufnahme ein kleines Meisterwerk, ein Beispiel, wie Musik „atmen“ kann.

Weil Manfred Eicher auch scheinbar mühelos den Übergang von analoger hin zu digitaler Technik geschafft hat; weil er ein untrügliches Gespür für Qualität hat; weil er jungen Musikern stets eine Chance gibt, und letztlich: weil er seinen eigenen Anspruch niemals verleugnet, ihn nie dem mainstream geopfert hat, ist er mein musikalischer Held.


Ein großer Dank an Manfred Eicher. Mit seinen Arbeitsergebnissen hat er mir die Ohren geöffnet, hat mich gelehrt, feine Zwischentöne wahrzunehmen und damit unzählige genußreiche Stunden zu verbringen.

Veröffentlicht von Gerhard Rühl am 24. November 2019 anläßlich des 50jährigen Jubiläums von ECM Records

Lesen Sie hier auch meinen Text über ECM Records

Und hier ist schließlich noch mein Text vom November 2012:

Eine Kathedrale der Kultur
Gedanken zur ECM-Ausstellung im Haus der Kunst
Von Gerhard Rühl

Musik hat keinen Ort, sagt Manfred Eicher. Seine Musik ist aber vorübergehend im Haus der Kunst eingezogen. Mehr noch: sie hat sich eingenistet, ausgebreitet, erfüllt die Räume. Sie wird begehbar und erlebbar. Auf vielen Hörstationen kann man historische und aktuelle Aufnahmen geniessen, auf zahlreichen Bildschirmen werden filmische Dokumente gezeigt.
Die Musik wird aber auch förmlich greifbar. Denn Manfred Eicher hat seine Asservatenkammern geöffnet und viele Dokumente zur Verfügung gestellt. Da finden sich Fotos und Notenblätter, Plattencovers und Entwürfe der großartigen Grafikerin Barbara Wojirsch (wieviel schöner und dynamischer waren doch die großen LP-Covers im Vergleich zu CD-Hüllen!).

Daß die Musik aber eine materiell faßbare Dimension bekommt, liegt vor allem am Archiv der Originalbänder. Schon in der ersten Vitrine liegt eine Magnetbandspule, groß wie eine Sachertorte. Darauf enthalten: 30 Minuten Musik von Keith Jarrett. So wie diese Spule da liegt, strahlt sie Souveränität aus, ist sie ein Sinnbild von äußerer und innerer Qualität.

Im gleichen Raum dann das Herzstück der ganzen Ausstellung: ein gigantisches, die gesamte Breite und Höhe des Raumes einnehmendes Regal mit den Originalbändern aus vier Jahrzehnten!
Ein Exponat von unschätzbarem Wert und von einer derartigen Ausdruckskraft, daß man sich andächtig niederknien möchte.

Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, daß diese Wand irgendwann vielleicht endgültig im Museum landet, weil es keine Geräte mehr geben wird, die diese Bänder abspielen können.
Digitalisiert würde all die Musik wahrscheinlich auf eine transportable Festplatte passen, vielleicht sogar auf einen iPod. Den könnte man dann als Symbol daneben legen – und es wäre, als würde man neben einer Kathedrale eine Autobahnkapelle errichten. Beide erfüllen vielleicht den gleichen Zweck, qualitativ liegen aber  Welten dazwischen.
Insofern ist diese Wand, wie die gesamte Ausstellung, auch eine Mahnung davor, reale Werte nicht durch virtuelle Realität zu ersetzen. Der Qualitätsverlust wäre immens.

Für mich ist die ECM-Ausstellung auch eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Die meisten der Plattencovers kenne ich, viele davon stehen im eigenen Schrank. Aber es würde mich interessieren, wie ein jüngerer Besucher diese Ausstellung wahrnimmt. Bekommt er auch nostalgische Gefühle beim Betrachten der Exponate? Betrachtet er diese als Relikte aus einer vergangenen Zeit? Denkt er gar „so war’s einmal, so wird’s nie wieder“?
Das wäre in der Tat fatal.

Denn die richtige Folgerung lautet für mich: „so war’s einmal, so muß es wieder werden“.
Nicht in technischer Hinsicht, das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Aber im Zugang zur Musik.
Die Ausstellung zeigt uns –  vor allem jenen, die Musik nur noch aus dem Internet kennen –  daß wir Musik als Werk begreifen müssen, nicht als bloße Datei, die körperlos umherschwirrt und jederzeit verfügbar ist.
Denn das hat Manfred Eicher ganz sicher nicht gemeint, wenn er sagte „Musik hat keinen Ort“.

Vielleicht hat Musik wirklich keinen Ort, aber sie hat eine Quelle und ein Ziel. Sie entsteht in den Köpfen und Händen der Musiker und Produzenten;  sie zielt auf die Seelen der Hörer. Dabei transportiert sie Gefühle und innere Werte. Genau das wird in der ECM-Ausstellung überdeutlich. Sie demonstriert die menschliche Komponente, zeigt die Leidenschaft der Musiker und räumt dadurch auf mit dem gelegentlich gehörten Vorurteil, ECM-Produktionen seien zu „kopflastig“. Damit macht sie dem Betrachter auch Lust, sich mit der vielfältigen Musik des Labels zu beschäftigen, dessen Bedeutung  ja noch gewachsen ist.
Es gäbe noch viel zu erzählen über die ganz eigene ECM-Ästhetik, über die herausragende Klangqualität… doch sehen, hören und fühlen Sie selbst!

Ein Archäologe hofft,  etwas Unbekanntes, einen verborgenen Schatz, zu finden, der im Idealfall sogar seine eigenen Erkenntnisse erweitert. Wenn Sie mit genau diesem Ansatz in die Ausstellung „ECM – eine kulturelle Archäologie“ gehen, werden Sie jede Menge solcher Schätze entdecken, das verspreche ich Ihnen. Sie haben noch Gelegenheit dazu bis zum 10. Februar 2013.

Gerhard Rühl, 26. November 2012

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