Die Ledererstraße

Die Ledererstraße verläuft in südöstlicher Richtung zwischen Sparkassen- und Hochbrückenstraße. Sie ist nur etwa 150 Meter lang und wirkt durch die Begrenzungen in beiden Richtungen wie eine Sackstraße. Dadurch bekommt sie einen kompakten und gemütlichen Charakter, wenngleich sie gerne auch als Durchfahrtsstraße genutzt wird, gerne von Maseratifahrern, die vor der Bar Centrale ihren Motor aufheulen lassen.
Das gesamte Viertel wurde früher von Stadtbächen durchzogen, ihren Namen verdankt die Ledererstraße den Gerbern, die sich hier angesiedelt hatten und ihre Abwässer in den Bach kippten.

Ich möchte Euch hiermit eine Zustandsbeschreibung der Ledererstraße geben:
Die Ledererstraße im Jahr 1970
Die Entwicklung der Ledererstraße von 1970 bis 2015
Nachbarn, Helden und andere Personen aus der Ledererstraße

Das Platzl im Jahr 1970

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Ledererstraße 1970

Als wir 1970 in die Ledererstraße einzogen, waren noch Straßenbahnschienen verlegt. Die Trambahn fuhr durch das Tal und nutzte den Weg Maderbräu-/Lederer- und Hochbrückenstraße als Umkehrschleife.
Leider habe ich aus der damaligen Zeit nur wenige Fotos der Ledererstraße, aber ich kann mich sehr genau erinnern, daß die Bausubstanz und der optische Eindruck damals eher schlecht waren (wie man an obenstehendem Foto vom Platzl sieht). Die Hausfassaden waren teilweise recht heruntergekommen, die Geschäfte eher nachlässig gepflegt. Die Bebauung war ziemlich gemischt – neben historischen Gebäuden, die den Krieg überstanden hatten, gab es typische Nachkriegsbauten, zweckmäßig aber ohne großen Charme.
Auffällig ist, daß sich die „linke“, also die nördliche Seite der Straße deutlich von der südlichen unterscheidet. Im nördlichen Teil, der sich zur Bräuhausstraße hin orientiert, gibt es fast nur kleinteilige Häuser mit verwinkelten Hinterhöfen. Lediglich die Häuser 17 und 19, erbaut 1953, bilden ein größeres Ensemble. Die südliche Seite wird hingegen beherrscht von zwei großen Komplexen, der Stadtsparkasse und dem Böhmler-Haus. Das erklärt auch, warum die Nummern 9 und 10 so weit voneinander entfernt sind, sie liegen jeweils fast am Ende der Straße.

Für jene Leser, die sich an die damalige Zeit erinnern können (oder wollen), und für jene, die gerne die Geschichte am Leben halten wollen, habe ich eine Aufstellung der Geschäfte in der Ledererstraße im Jahre 1970 gemacht. Machen wir also einen kleinen Spaziergang:

Von der Burgstraße kommend betreten wir die Ledererstraße durch den Torbogen. Hier im Durchgang betreibt Bernd Gerboth einen Laden für Korbwaren. Nach dem Durchgang rechts, auf Nummer 2, ist ein Reisebüro. Gegenüber ist der Eingang zu Hausnummer 3. Dies ist eines der ältesten Häuser Münchens, erbaut im 13. Jahrhundert. Es beherbergt das Zerwirkgewölbe, ein feines Geschäft für Wild und Geflügel.
Wir überqueren die Sparkassenstraße und finden auf Nr. 5, im Haus der Scholastika, die Gaststätte Haxnbauer. Gleich dahinter verbirgt sich auf Nr. 7 ein kleiner Juwelierladen, daran grenzt Schwaigers Wwe., ein Spezialgeschäft für Segelbedarf sowie Seile und Taue aller Art. Haus 9, in meinem Plan etwas zu groß geraten, ist in Wirklichkeit eher ein Hinterhaus. In Haus 11 ist das Milch- und Käsegeschäft Hindelang untergebracht, es beeindruckt mit seinen Wandfliesen. Daneben, Nr. 13, welch ein Kontrast, eine Pizzeria und der Eingang zum Hotel Alcron. An der Ecke, in Haus Nr. 15, ist die Bäckerei Fugger zu finden, sie macht mit ihren Brezen dem berühmten Bäcker Karl (am Platzl) Konkurrenz.

Wir überqueren nun die Orlandostraße. An der Ecke ist der Schreibwarenladen von Frau Pemsl, danach kommt auf Nr. 17 das Wäschegeschäft des Herrn Fasching. Mit gleicher Hausnummer nun das berühmt-berüchtigte Nachtlokal River Kwai. Der Besitzer, ein Pole namens Bruno (nicht zu verwechseln mit Bruno Dauber!) hat eine „Frühkonzession“, er versorgt also jene Nachtschwärmer, die sich nach der Sperrstunde noch den Rest geben wollen. Wir sollten noch jahrelang unter diesen Gästen zu leiden haben, stark alkoholisierte Männer (und leider auch Frauen) sind schon frühmorgens kein schöner Anblick. Es haben sich unbeschreibliche Szenen ereignet, Details erspare ich mir lieber.
Wand an Wand mit diesem Lokal ist nun unser Domizil, auf Hausnummer 19, in einem ehemaligen Dirndlgeschäft. Nach der Toreinfahrt, aber immer noch mit Nr. 19, betreiben Max und Ilse Bauer einen Friseursalon mit einer typischen Nachkriegseinrichtung wie den legendären Trockenhauben. Auf Nr. 21 führt Herr Kao das China-Restaurant Mandarin, er ist auch Künstler und hat die Wände seines Lokals selbst mit Kalligraphien ausgestattet. Daneben, im Keller von Haus Nr. 23, das Nachtlokal Madam Cabaret und schließlich, ebenfalls in Haus Nr. 23, das legendäre Café Schmid.

Wir sind nun schon am Ende der Ledererstraße angelangt und sehen das große Gebäude der Münchner Wach- und Schließgesellschaft – ein Sicherheitsunternehmen, dessen Namen Vorbild der „Münchner Lach und Schieß“ geworden ist. An der Ecke der Ziegelbau des Polizeireviers.
Dort gehen wir aber nicht hin – wir überqueren die Ledererstraße und sehen mit Hausnummer 14 ein sichtlich sehr altes Haus, in dem ein Blumengeschäft untergebracht ist. Daneben, Hausnummer in 10 (12 gibt es nicht!) das Münzengeschäft Oswald und ein Damen-Frisier-Salon, der mit Haarteilen und Perücken wirbt.


Nun kommt das Hotel Adler (Nr. 8), das eine zentrale Rolle in der Ledererstraße spielt. Es ist ein recht einfaches Familienhotel, das in mehreren Folgen der TV-Serie „Der Kommissar“ als Drehort diente. In diesen Folgen sieht man ganz deutlich, wie düster und wenig gepflegt die ganze Innenstadtgegend damals noch war – und das fällt nicht nur auf, weil die Filme in schwarz/weiß gedreht sind.
Es wird öfters aus dem Fenster und in der Nähe des Hotel Adler gedreht, in Kameraschwenks sieht man die Straße, die Läden, niemals aber das SHIROKKO. Warum wohl?


Rückseite und Garage des Hotel Adler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir gehen nun die Ledererstraße weiter zurück, nach dem Lagertor von Möbel Böhmler und dem Eingang zur Böhmlerpassage ist auf Nr. 4 der Modeladen Mayr zu finden. Hier kaufen die Bewohnerinnen der Gegend gerne ein, die Mode ist dementsprechend etwas „ältlich“.
Das war’s. Mehr gibt es nicht zu sehen, wenigstens damals nicht. Noch nicht!

Wir machen nun noch einen kleinen aber wichtigen Abstecher. In der Orlandostraße Nr. 2 hat das sympathische Ehepaar Lahuis einen winzigen Laden für Zigaretten, Zeitschriften und Getränke (L). Häufig sitzt dort Ludwig Schmid-Wildy, Volksschauspieler, der auf der Bühne des Platzl gelegentlich auftritt. Ebenfalls gern gesehener Gast ist Franziska Bilek, Zeichnerin des legendären „Herrn Hirnbeiß“ in der Abendzeitung, die im Orlandohaus wohnt. Wenn wir eine Flasche Mineralwasser kaufen, malt uns Herr Lahuis mit Stift den „Jahrgang“ darauf.
Schräg gegenüber betreibt Familie Huber den Räucher-Onkel (RO), eine Metzgerei mit angegliedertem Imbiß. Legendär ist die gefüllte Kalbsbrust, deutlich besser als der Leberkäs in Bierteig, der in der gegenüberliegenden Strudelstube geboten wird.

Unser Spaziergang ist noch nicht zu Ende – jetzt kommt ein weiterer wichtiger Ort, speziell für uns „junge Wilde“! Wir biegen links in die Münzstraße ein und gehen in Haus Nummer 7, genannt Münze7.
Es ist ein Haus, in dem sich alle möglichen Leute einquartiert haben, die mit der muffigen und konservativen Atmosphäre der Hofbräuhausgegend so gar nichts zu tun haben wollen.

Hier ist das Büro der Agentur PROM von Abi Ofarim und Daniel Spiegel untergebracht. Es gibt eine Teestube, in der man alle möglichen Kräuter erwerben kann, keineswegs nur Tee! Greta Zeppel, genannt Gretel, hat hier ihr Atelier. Sie ist Schneiderin (wird später Kostümbildnerin am Gärtnerplatztheater) fertigt eigene Mode an und hat auch Second-Hand-Klamotten. Ihr Partner Krischan wird eines Tages unter mysteriösen Umständen aufgefunden, tot im Wald.
Ebenfalls in der Münze7 hat Charlotte Zander ihr Atelier. Sie ist eine ungeheuer eloquente und selbstbewußte Frau, wird bald Dauerkundin im SHIROKKO (und sie wird mir bis zu ihrem Tod im Jahr 2014 eine hoch geschätzte Gesprächspartnerin sein).
Als Krönung des Ganzen findet sich auf der Dachterrasse der Münzstraße 7 eine gehegte und gepflegte Plantage,mit: Marihuana!!! (Eine Pflanze habe ich mal geschenkt bekommen, die gedieh auf dem Balkon ganz trefflich, wurde aber von unserem Kater bis auf halbe Höhe ratzeputz abgefressen…)

So, liebe Nostalgiker, das war mein kurzer Spaziergang. Ihr könnt Euch nun bestimmt vorstellen, in welch kuriose Atmosphäre wir da geraten sind, wie oft wir mißtrauisch beäugt worden sind – und welche Arbeit noch vor uns lag….

Die Ledererstraße verändert sich

Nach der Olympiade 1972 hat sich München so ganz allmählich herausgeputzt, das konnte man auch in der Ledererstraße feststellen. Die vormals grauen Fassaden wurden gesäubert und renoviert, es siedelten sich neue Geschäfte an. 1972 eröffnet Ulrich Tiemann die Orlando-Apotheke, etwa gleichzeitig zieht Bruno Dauber mit seinem Nachtlokal Madam Cabaret ein – zusammen mit diesen beiden bin ich schließlich einer der Straßenältesten, um nicht zu sagen „Platzhirschen“.

Ihre schönste und interessanteste Phase erlebt die Ledererstraße Anfang des Jahrtausends.
Auf Nummer 7 hat Renate Wittgenstein ihren Lifestyle-Laden eröffnet, am anderen Ende auf Nummer 10 betreiben Ellen Dietrich und Connie Müllerschön das Schmuckgeschäft Starke Stücke. Connie beschreibt die Straße einmal ganz treffend: „Es gibt hier keinen Filialisten, alles sind inhabergeführte Geschäfte. In keinem einzigen hat man jemals ein Rabattaktionsschild im Fenster gesehen. Alle hegen und pflegen ihre Läden, ihre Dekorationen. Deshalb ist die Straße so schön“.

In der Tat ist die Ledererstraße, auf halbem Weg zwischen den gegensätzlichen Polen Maximilianstraße und Viktualienmarkt ein beliebter Treffpunkt für Käufer und Flanierer geworden. Besonders an Samstagen finden sich hier Paare ein, die sich nach erfolgtem genußvollem Einkaufsbummel einen Kaffee, eine CD oder auch nur einen Ratsch gönnen.

So schildert das auch die Süddeutsche Zeitung im April 2006 im Artikel „Fleischeslust und Schokoträume – Wie aus der früher leicht verlebten Ledererstraße ein wunderbarer Ort zum Ausgehen und Einkaufen wurde“. In diesem Artikel wird die Straße als „Filetstück in der Innenstadt“ bezeichnet, allerdings hat der Autor auch die Befürchtung, daß wegen der steigenden Mieten die Straße „ein Opfer des eigenen Erfolges wird“.

In den letzten Jahren unseres Geschäftslebens hat die Ledererstraße tatsächlich an Charme und auch an Attraktivität verloren. Die Herzblut-Frauen Renate, Ellen und Connie waren weggezogen. Andere Läden, auch das SHIROKKO, hatten am Fernbleiben der Stammkundschaft zu leiden – und am sprunghaften Ansteigen eines Massen- und Billigtourismus, der für viele Einheimische ein Grund ist, nicht mehr so gerne in die Innenstadt zu fahren.

Für mich bleibt die Ledererstraße aber dennoch in guter Erinnerung. Sie blieb in Bewegung, hat sich verändert – was aber geblieben ist: die nachbarschaftliche Atmosphäre, die Freundschaft unter den Geschäftsleuten. Eine Angestellte von Renate Wittgenstein hat das so geschildert: „ich war früher in den Schäfflerhöfen als Verkäuferin tätig. Da hat jeder Ladenbesitzer in der Früh sein Geschäft auf- und am Abend abgesperrt, aber seinen Nachbarn hat er kaum gekannt. Hier in der Ledererstraße ist es jedoch wie in einer Familie“.

Ich bin froh und stolz, über vier Jahrzehnte Teil dieser Familie gewesen zu sein.
Gerhard Rühl, 3. Februar 2017

 

 

Die Entwicklung der Ledererstraße von 1970 bis 2015

Kennen Sie das Gefühl: man geht in eine Straße, sieht, da hat sich etwas verändert. Aber: was war da vorher drin? Für alle Interessierten an solchen Entwicklungen habe ich versucht, die Veränderungen in der Ledererstraße zu rekonstruieren.

Wie man sieht, hat sich manches über Jahre gehalten (Haxnbauer, Orlando-Apotheke, Mandarin, Madam Cabaret, SHIROKKO). Manches hat sich nur geringfügig verändert, so hat beispielsweise die Bäckerei an der Ecke oftmals den Besitzer gewechselt, ist aber immer eine Bäckerei geblieben.

Die meisten Veränderungen gab es in den Häusern Nummer 10 und Nummer 17.
Haus Nummer 10 wurde Ende der 70er Jahre vollständig renoviert, es präsentierte sich nun als „historisches Bürgerhaus“.  In den beiden Läden wechselten fortan die Mieter, es waren bis heute mehr als ein Dutzend. Der kurioseste war wohl der Besitzer des Gebrauchtwarenladens. Wenn ihm ein Kunde nicht ganz geheuer war, holte er schon mal eine Pistole aus der Schublade und sagte „verlassen Sie mein Geschäft“.
Es folgte wieder ein Friseurgeschäft, der Chef hieß Heinz, der Friseur Robert. Dann übernahm Annemarie McMonagle den Laden, als sie über die Straße auf Nr. 19 umsiedelte, zogen Ellen Dietrich und Connie Müllerschön ein, die dann wiederum eine Tür weiterwanderten. Nick Stolberg zog mit seinem wunderschönen Schokoladen-Laden ein, nach dessen Ende wurde daraus das 1001 Senses.

Nebenan, auch auf Nr. 10, wurde aus Münzen Oswald ein Laden für Antiquitäten und Jugendstil, ein Einrichtungsladen, bis schließlich Suat Günes den Plattenladen BamBam Records eröffnete – lange Zeit Anlaufstelle für DJs. Anschließend übernahmen Ellen & Connie (von nebenan) das Geschäft und nannten es Starke Stücke. Danach wurde es der Laden Missoni Home und jetzt gehört es dem Schmuckdesigner Patrik Muff.

Nachdem das Frühlokal River Kwai in Haus Nummer 17  geschlossen hatte (und die Räume von allerlei Unrat befreit wurden), renovierte und modernisierte ein tschechischer Architekt das Lokal, es wurde als Café Olga und Cafe Olympia von seinen Freunden sowie einem männlichen Pärchen für jeweils nur kurze Zeit betrieben. Dann Café Schöne Münchnerin, dann Levantes (das seiner Zeit voraus war, es hätte mit orientalischen Speisen wie Hummus noch heute eine Chance). Dann der griechisch-englisch-deutsche Familienbetrieb Fish & Chips, dann das Bangkok House (dem ich noch immer nachtrauere), dann übernahmen Hans Landersdorfer und Robert Innerhofer das Lokal und machten daraus ihre Dependance L&I. Mittlerweile ist es italienisch orientiert und heißt Il Giro.

Aus dem Wäschegeschäft Fasching, ebenfalls Nr. 17,  wurde der Antiquitätenladen von Frau Sinnewald.
Ein paar Jahre war es dann zweiter Laden und Lager für das SHIROKKO, dann für zehn lange Jahre der Billigshop von Herrn Ziethen. Anschließend für 5 Jahre Servus Heimat und mittlerweile das Obacht.

Über weitere Veränderungen werdet Ihr in diesem Blog sicherlich noch Einiges lesen…
Gerhard Rühl, 3. Februar 2017

 


Hier sind abschließend noch einige meiner
Nachbarn, Helden und andere Personen aus der Ledererstraße

Frau Mitterer
Seit wir das erste Mal die Ladentür des SHIROKKO öffneten, war Frau Mitterer allgegenwärtig – sie war die Hausmeisterin in Reinkultur. Nichts ist ihr entgangen, zu allem wußte sie einen Kommentar, und sie war dabei nicht immer die Höflichste, um es wohlwollend zu beschreiben. Sie hatte eine bewegte Lebensgeschichte. Sogar das Süddeutsche Zeitung Magazin widmete ihr 2008  eine lange Story mit dem Titel „Ein deutsches Leben“. Rosa Mitterer war unerbittlich in ihren Ansichten, für sie muß es ein wahrer Schock gewesen sein, als wir dort einzogen, in „ihrem“ Haus! In ihren Augen waren wir bestimmt Gammler und Drogensüchtige, mindestens.

Frau Mitterer mußte sich in alles einmischen. Eines Tages parkt ein Taxifahrer vor der Einfahrt und wartet auf einen Fahrgast. Frau Mitterer fordert ihn in drastischen Worten auf, sofort wegzufahren.
„Schaun’s, daß’s sofort wegkumma! Sengs net, daß des a Einfahrt is? No dazua a Feierwehreinfahrt! Glei hoi i d’Polizei!“ Es geht immer weiter so, die Sache droht zu eskalieren. Da steigt der Taxifahrer aus und geht ganz langsam auf Frau Mitterer zu. Ich denke mir „O Gott, jetzt schmiert er ihr eine“. Er nähert sich bis auf wenige Zentimeter, dann sagt er zu ihr: „mogst a Bussi?“. Da war selbst Frau Mitterer, die sonst so schlagfertig und nie um einen Kommentar verlegen war, sprachlos.

Mit niemand sonst habe ich so viel gestritten wie mit Frau Mitterer. Und dennoch habe ich sie auch sehr geschätzt, denn sie war im Grunde eine herzensgute Frau (die aber oft ihre Güte geschickt zu verbergen wußte). Sie war auch keineswegs so konservativ, wie man aus ihrem Verhalten schließen konnte.

Im Laufe der Jahre hat sich auch ihre Abneigung gegen uns gelegt, wenngleich ganz langsam und ohne große Sympathie-Beweise. Aber sie hatte erkannt, daß wir zumindest fleißig und ordentlich waren (dennoch mußte sie immer kontrollieren, ob wir unseren Müll richtig entsorgen). Sie selbst war eben auch ordentlich und hat sich immer schön „gerichtet“. Sie war immer gut gekleidet, auch wenn sie nur zum Einkaufen ging. Sie ging jede Woche zum Friseur, und wenn sie aus dem Krankenhaus kam, war ihr erster Gang dorthin.

In ihren letzten Lebensjahren, als sie immer kränker und schwächer wurde, hat sich ihr Verhältnis zu uns deutlich verbessert. Schließlich saßen wir, die wir so viele Kämpfe mit ihr ausgetragen hatten, am Ende doch gemeinsam händchenhaltend auf ihrem Sofa, wir haben uns um sie gekümmert – und so endete mit ihrem Tod eine Ära, sie starb im Juli 2010 im Alter von 92 Jahren. Vierzig Jahre lang hatte ich geschätzt über zehntausendmal gesagt „Guten Morgen, Frau Mitterer“, „Auf Wiedersehen, Frau Mitterer“, „Ist Recht, Frau Mitterer“.
Nun fehlte sie uns doch sehr. Ich denke in würdevoller Erinnerung an Frau Mitterer zurück.
Denn letztendlich hatte sie ja Recht, selbst wenn sie nicht Recht hatte.

Bruno Dauber
Der Bruno, wie ihn alle nannten, war die zentrale Figur der Ledererstraße. Sein Lokal war zunächst in der Bräuhausstraße und hatte einen Anbau im Hof, in dem sich unser Parkplatz befand. Als wir eines Tages in den Hof fahren, ist der Anbau komplett schwarz! Es hatte gebrannt, ein Gast ist dabei zu Tode gekommen. Nun zog Bruno nach vorne in die Ledererstraße und betrieb hier das Madame Cabaret. Man sagte „der Bruno hat immer die schönsten Frauen Münchens“.

Ganz sicher war Bruno ein Schlitzohr und cleverer Geschäftsmann, aber er war auch ein großzügiger Mensch. Wenn er vom Großmarkt kam, schenkte er uns regelmäßig Orangen oder andere Früchte. An Weihnachten gab es immer eine Flasche Schampus. Für seine Mitarbeiter holte er regelmäßig warmes Essen, manchmal Suppe, manchmal Haxn vom Haxnbauer (Kalb natürlich, nicht Schwein!). Wenn er sich von seinen nächtlichen Aktivitäten erholen mußte, fuhr er aufs Land, machte Spaziergänge – und brachte immer frische Eier mit.
Eine der schönsten Begebenheiten mit Bruno, an die ich mich erinnere: Kurz nachdem Irmgard gestorben war, sprachen wir in Trauer und Ernsthaftigkeit mit Nachbarn. Da kam Bruno zur Tür herein – mit einem Karton Eier in der Hand. Wir grinsten, und Bruno sagte mit seinem trockenen jüdischen Humor mitten in die ernste Situation: „hab ich’s doch gewußt, kaum kommt der Bruno, schon lacht ihr“.

In seinem Lokal hatte Bruno das Schild angebracht: „Die Zeit vergeht – Bruno besteht“.
Wie ich erfahre, ist Bruno mittlerweile sehr krank, er mußte sein Lokal verkaufen.
Alles Gute, Bruno! Die Zeit mit Dir war schön!

Renate Wittgenstein
Als Renate Wittgenstein im Jahr 2000 ihren Laden „lebensart r.wittgenstein“ im Raum des ehemaligen Segelbedarfsgeschäfts eröffnet, sind wir sehr skeptisch. Scheinbar nicht nur wir, denn Freunde fragen Sie „was willst du denn in der Straße?“. Aber Renate sagt „wieso, in der Straße ist doch auch das Shirokko“. In der Tat verstehen wir uns sofort prächtig, freunden uns mit ihr, mit ihrem Partner Luc und ihrer Tochter Laura an. Wir sind offensichtlich alle auf der gleichen Wellenlänge, ticken ähnlich und haben auch immer wieder neue Ideen. Renate hat ein glückliches Händchen und ein untrügliches Gespür für Trends. Viele Kunden gehen „zur Renate“, und sei es auch nur, um zu erfahren, was sie wieder an Neuigkeiten zu bieten hat. Eines Tages will sie ein Kaminbesteck präsentieren und plant, dafür einen Fernseher mit Kaminfeuer zu installieren. Sie bittet mich, einen Kaminfeuer-DVD zu besorgen. Ich denke mir „so ein Schmarrn“. Die DVD wird ein Renner, wir haben Hunderte verkauft.

Wir treffen uns regelmäßig mit Renate und ihrem Team zum Abendessen, gehen ins Brenner (loup de mer!) oder ins Tabacco (Rinderfilet!). Eine herrliche und vor allem auch lustige Zeit.
Weil ihr Vermieter die Miete drastisch erhöht, zieht Renate nach fünf Jahren wieder aus. Aber sie ist guten Mutes, denn sie hat einen viel größeren Laden in der Blumenstraße gefunden und hofft, daß die neu bewirtschaftete Schrannenhalle ihr entsprechend Kundschaft bringt. Eine Weile beliefern wir sie noch mit CDs, aber leider ohne großen Erfolg.
Renates Hoffnung war eine Fehleinschätzung, die Schrannenhalle hat ihr überhaupt nichts gebracht, ganz im Gegenteil – sie war ein Flop. Oder, wie es Joseph von Westphalen in der SZ ausdrückte: „Die Schwemme des Hofbräuhauses ist ein Paradies gegen die Schranne, diesen niederträchtigen Hallenhomunkulus.“
Renate muß ihren Laden Ende 2008 zähneknirschend aufgeben. Unsere Wege verlieren sich. Leider.

Daisy
Renate hatte einen Hund namens Daisy. Die Passage vor Renates Laden war durch ein Gitter geschützt, dahinter saß Daisy. Auf dem Weg zur Post habe ich oft der Daisy ein Wienerle durch das Gitter gesteckt. Eines Tages kaufe ich beim Räucher-Onkel ein und sage zu Herrn Kraus:
„dann brauche ich noch zwei Wiener für die Daisy.“
Herr Kraus sagt: „die Daisy frißt keine Wiener“.
Ich: „logisch frißt die Wiener, ich steckt ihr doch immer welche durchs Gitter.
Herr Kraus: „wenn ich’s ihnen doch sag, die Daisy frißt keine Wiener, die frißt nur Kalbsleberwurst, dünn aufgeschnitten“.
Er meinte Daisy, den Hund von Rudolph Moshammer.

Renates Daisy mochte keine Polizisten. Wenn ein Polizeiauto vorbeifuhr – und das kam häufig vor – bellte sie wie wahnsinnig. Und wenn ein Polizist vorbeiging, zwickte sie ihn gerne in die Waden. Eines Tages beobachte ich, wie ein Polizist gebückt am unserem Laden vorbeigeht, auf dem Weg ins Revier. Er hat einen Hund an der Leine. Daisy! Kurz darauf kommt Renate gerannt. „Habt Ihr die Daisy gesehen?“ Ich sage: „ja, die ist verhaftet worden und ist jetzt auf dem Polizeirevier“. Renate muß also den Hund wieder aus der Gefangenschaft befreien und dabei beteuern, daß ihre Daisy noch niemals einen Polizisten gebissen hat.

Annemarie McMonagle
Schon als die Schottin noch gegenüber in Haus Nr. 10 ihren Salon hatte, ging ihr der Ruf voraus, sehr impulsiv zu sein, um es vorsichtig auszudrücken. Nun zog sie direkt neben uns ein, das konnte ja heiter werden. Und das wurde es auch! Meistens.
Aber das ist nur die eine Seite von Annemarie. Sie ist auch eine sehr einfühlsame und warmherzige Person, wie man zum Beispiel am Umgang mit ihrer Tochter sieht.
Bye bye, my dear Annemarie – es war eine schöne, lustige und abwechslungsreiche Zeit mit Dir. Danke auch an das ganze Team, an Cornelia, Susanne, Sophia…

Ellen Dietrich & Connie Müllerschön
Nachdem Annemarie in Haus Nr. 10 ausgezogen ist, übernimmt Ellen Dietrich den Laden. Sie stellt sich prompt bei uns vor und sagt, daß sie sich sehr auf die Nachbarschaft freue. Ganz meinerseits. Denn nicht nur Ellens Schmuck sagt uns zu, auch ihre nette und einfühlsame Art macht sie zu einer ganz lieben Freundin. Später zieht Ellen dann eine Tür weiter in den größeren Laden. Zusammen mit ihrer Partnerin Connie ist sie eine ganz wichtige Bereicherung der Straße, denn die beiden achten sehr auf ordentliche und professionelle Arbeit, was man auch an der Gestaltung ihres Ladens spürt. Der Name Starke Stücke ist goldrichtig gewählt.
Ellen und Connie waren uns, nicht immer aber meistens, wichtige Ansprechpartner und Ratgeber. Die regelmäßigen Feste waren sind jedenfalls immer ein Highlight, schon auch weil man da wirklich interessante und spannende Leute traf. Mittlerweile hat es Ellen & Connie, nach einigen Umzügen, nach Grafing verschlagen. Aber das ist ja nicht weit und wir werden uns wiedersehen…

Nun noch zu einer wichtigen Person, die zwar nie in der Ledererstraße gearbeitet hat, dennoch aber unverrückbar zur Geschichte gehört:
Martin Felke
Ich glaube, es war 1976, als Martin Felke den Laden von Herrn & Frau Lahuis in der Orlandostraße übernahm. Für jemand, der, soweit ich weiß, aus der Gegend von Mönchengladbach kam, ein ganz schönes Wagnis, in solch einem Münchner Biotop Fuß zu fassen. Aber mit seiner freundlichen und zugänglichen Art hat Martin es schnell geschafft, das Vertrauen in der Nachbarschaft zu erlangen. Weil er gut zuhören konnte und die Menschen nicht vorschnell einteilte oder gar verurteilte, war er bald so etwas wie eine Mischung aus Geheimnisträger und Therapeut.
Seine Art, stets freundlich zu sein, niemals nein sagen zu können, hat ihm allerdings auch Probleme eingetragen. Besonders später, als er in seinen noch winzigeren Lotto-Laden in der Hochbrückenstraße gezogen war, stand er förmlich mit dem Rücken zur Wand und war allem Nachbarschaftstratsch ausgesetzt. Daß er das psychisch überhaupt unbeschadet überstanden hat, wundert mich noch heute.
Wahrscheinlich war seine Eigenschaft, über alles Bescheid zu wissen und dennoch niemals ungefragt über andere Leute zu reden, der Grund, warum Martin eine der wichtigsten  und zuverlässigsten Personen in der Geschichte der Ledererstraße geworden ist.

Gerhard Rühl, 3. Februar 2017
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