Foto-Schwabing

1959 begann meine Mutter Irmgard (damals hieß sie noch Rühl, später Weigelt, aber ich werde sie hier immer Irmgard nennen, denn sie war immer bekannt als „die Irmgard“) als Verkäuferin in der Plattenabteilung eines Fotogeschäfts in Schwabing. Der Besitzer hieß Starczewski und so nannte er das Geschäft auch Star-Foto, weil sich dort viele Stars fotografieren ließen.
Der Laden war in der Hohenzollernstraße 12, ein kleines Geschäft mit einer noch kleineren Plattenabteilung.

 

 

 

 

Hier sieht man Irmgard in der Kabine, in der man Platten anhören konnte – auf einem Plattenspieler mit Lautsprecher im Deckel!

 

 

 

 

 

 

 

So sahen in den Fünfzigern Plattenläden aus

 

 

Das Publikum war, von einigen Stars und Promis abgesehen, gutbürgerlich und kulturbewußt. Schwabing eben. Man hörte damals hauptsächlich sehr viel Klassik, wie zum Beispiel Van Cliburns sensationelle Aufnahme von Tschaikowskys Klavierkonzert, man hörte Jazz von Duke Ellington bis Miles Davis.
Popmusik gab es noch nicht wirklich, höchstens Schlager. In der Hitparade von 1959 fanden sich beispielsweise das Kingston Trio mit „Tom Dooley“, Dalida mit „Am Tag als der Regen kam“ und Rocco Granata mit „Marina“ !
Da hielten sich die gebildeten Hörer lieber an französische Chansons oder an Sprechplatten.
So kam eines Tages auch Klaus Kinski in den Laden, um Irmgard seine neueste Platte mit Texten von Rimbaud zu offerieren:

 

 

 

 

Gnäd’ges Fräulein, darf ich’s wagen,
mein neustes Werk Ihnen anzutragen ?

 

 

 

 

 

 

 

Nein, sie haben nicht telefoniert!
So hat man damals Musik gehört.

 

 

 

 

 

 

 

Und da hört man noch mehr…

 

 

 

 

Schließlich hat er ihr noch etwas ins Gästebuch geschrieben

 

 

 

 

Star-Foto wechselte aber bald seinen Besitzer…

Foto Schwabing
Ein Düsseldorfer Geschäftsmann namens Wilmer hat dann den Laden übernommen und in Foto-Schwabing umgetauft. Er war von stattlicher Figur und zwar eher konservativ eingestellt, dennoch aber sehr fortschrittlich. Statt der simplen Plattenspieler gab es nun eine richtig gute Anlage mit einem noblen Thorens-Plattenspieler, einem anständigen Verstärker und guten Lautsprecherboxen.
Noch hörte man zwar gefällige Musik, Freddy Quinn und Connie Francis waren sehr beliebt, das Album des Jahres war My Fair Lady. Aber bald sollten ja die Beatles kommen…

Herr Wilmer konnte nicht ahnen, mit welch schrägen Klängen er alsbald konfrontiert werden würde.
Denn ab Mitte der 60er Jahre lief Irmgard zur Hochform auf. Im Sog der damaligen Blütezeit der Beat-Musik (der Begriff Pop kam erst später) schaffte sie alle Platten herbei, die angesagt waren. Oder, wie man sich damals ausdrückte: dufte.
Und als dann die ersten sogenannten progressiven Aufnahmen auftauchten, der Underground und die politisch motivierten Bands der 68er Jahre immer populärer wurden, kam kein Musikfreund mehr an Foto-Schwabing, und an Irmgard, vorbei. Kaum zu glauben, daß dieser winzige Laden mit etwa 20 Quadratmetern das Epizentrum der Münchner Musikszene war.

Wann immer eine neue Platte von Velvet Underground, den Doors oder Pink Floyd angekündigt war, gaben sich alle Fans, Musiker und Künstler hier die Klinke in die Hand. (Ich werde demnächst mal eine Liste der für uns wichtigsten Alben von 1965 bis 1969 erstellen)
Vor allem die Bekanntschaft mit Amon Düül II, die wir alle nur die Düüls nannten, sollte noch wegweisend werden

Verfaßt von Gerhard Rühl, 10. Januar 2017

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