Schwabing

Fotos entnommen aus dem Buch „In Schwabing“ von Richard R. Roth & Ernst Grasser, Nymphenburger Verlagshandlung 1959

Schwabing, ein „Mythos“, oder wie Gräfin Reventlow Anfang des 20. Jahrhunderts es beschrieb, „ein Zustand“. Später hörte man allerdings oft „in Schwabing herrschen Zustände“, und das war keineswegs lobend gemeint.
Jahrzehntelang war Schwabing das Müncher Viertel, fast könnte man meinen, München hätte in der Wahrnehmung ausschließlich aus Schwabing bestanden. Dabei ist dieses Stadtviertel recht eng einzugrenzen: Altschwabing, das der künstlerischen Bohème, war eigentlich nur das Gebiet um den Wedekindplatz, vom Feilitzschplatz (jetzt Münchner Freiheit, aber für echte Schwabinger ist und bleibt es der Feilitzschplatz!) bis hinter zur Seerose.

 

 

 

 

 

Ab den 50er Jahren entwickelte sich Schwabing zum Treffpunkt der gutbürgerlichen Kulturinteressierten, meist umgeben von vielen Schönheiten. Schwabing war das Zentrum der Künstler. Abends stellten Maler ihre Bilder in der Leopoldstraße aus, in romantischem Kerzenlicht und bei gemütlicher Atmosphäre.

 

 

 

 

 

Dieses Bild muß bei der Buchhandlung Lehmkuhl in der Leopoldstraße aufgenommen sein, denn gegenüber sieht man das Geschäft Silberbauer – den ersten Selbstbedienungsladen Münchens!

 

 

 

Gemütlich war Schwabing damals allemal. Es gab keine Großraumlokale, sieht man von den paar wenigen Traditionsgaststätten ab. Aber es gab massenhaft kleine Lokale und Kneipen, Künstlertreffs und Musikbühnen. Angefangen von der legendären Mutti Bräu über den Käfig, das Käuzchen, die Nachteule, das Nest, das babalu  – ich könnte hier noch Dutzende Lokale aufzählen. Musik hörte man in der Tarantel, im Domicile, im Fendilator, in der Reitschule…
Man verabredete sich in Cafés wie dem Europa, in Eisdielen wie im Rialto, dem Capri, dem Cadore oder dem Venezia. Man ging in eines der zahlreichen Kinos wie den Türkendolch, das Occam, das Isabella, das ARRI, die Filmburg, das Leopold, das Marmorhaus oder das ABC.
Oder man traf sich eben bei: Foto-Schwabing.

Sie sehen schon an dieser bei Weitem nicht vollzähligen Aufstellung, wie viele Treffpunkte (heute würde man sagen: hotspots) es in einem relativ kleinen Gebiet gegeben hat. Logischerweise zog das viele auswärtige Besucher an, die besonders an Wochenenden das Viertel bevölkerten.

Aber die gemütliche Idylle war ja schon im Juni 1962 jäh zerstört worden durch die Schwabinger Krawalle, ausgelöst durch ein paar Musiker, die nach halb elf noch am Wedekindplatz spielten (einer davon, Sitka Wunderlich, war bis zuletzt gern gesehener Kunde im SHIROKKO). Die Musiker wurden von der Polizei abgeführt und als Protest gingen Schwabinger Bürger auf die Straße, es gab tagelange Prügeleien mit der Polizei. Plötzlich war Schwabing nicht mehr nur Ort für gemütliche Unterhaltung, es war auch Schauplatz der rasant voranschreitenden Aufmüpfigkeit der Jugend.
Denn mit dem Aufkeimen der Beat-Ära wandelte sich auch das Straßenbild, man sah Männer mit längeren Haaren und Frauen mit kürzeren Röcken. Die Jazzkneipen verloren an Publikum, neue Anziehungspunkte waren das Big Apple und, gleich daneben in der Leopoldstraße, das PN. Zwei Musikclubs, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Im Big Apple traten eher die arrivierten Bands auf, während Peter Naumanns PN eher Anlaufstelle für die Gegenkultur (später: den Underground) war.

 

Ecke Leopold-/Ainmillerstraße entstand das Picnic, das erste Schnellrestaurant, in dem man für wenig Geld seinen Hunger stillen konnte. Daneben betrieb in einem winzigen Behelfsbau ein Pole ein Bratwurststandl, an das ich noch heute wehmütig zurückdenke.

In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit war Schwabing damit ein Treffpunkt der Müssiggänger geworden, die man häufig als Nichtstuer, schlimmer noch: als Gammler bezeichnete. Selbst die Zeitschrift Pop (herausgegeben vom Schweizer Jürg Marquard, der später ein Großverleger wurde) entblödete sich nicht, in der Ausgabe 31 vom September 1968 zu schreiben:

Die Tramps und Hippies verabreden sich meist da, wo man am billigsten satt wird. Vor dem Picnic hat dieser Tage ein mitleidiger Münchner ein Sofa abgestellt, damit die Gammler sich vom Schlangestehen ausruhen können… Schüler und Gammler treffen sich auch gerne im PN. …Für 15 DM kann man bei Peter Naumann ein T-Skirt kaufen… Progressiven Jazz zelebriert man im Domicile. Und psychedelische Musik schliesslich kann man bei Amon Dyyl hören, sie spielen jeden Vormittag zwischen 10 und 12 Uhr und nach 13 Uhr in Englschalking. … Schallplatten, die es eigentlich in Deutschland gar nicht gibt, gibt es bei Foto-Schwabing (Feilitzschstraße am Wedekind-Brunnen)…
Dieser Text ist nicht nur schlampig recherchiert (die Schreibfehler habe ich genau abgetippt!) – er zeigt auch, mit welchen Vorurteilen und mit welchem Schubladendenken selbst die vermeintlich wohlmeinenden Journalisten arbeiteten.

Da muß man sich nicht wundern, daß in der Öffentlichkeit  das Bild entstand, Schwabing bestehe nur noch aus Gammlern, die am Monopterus im Drogenrausch musizieren und die freie Liebe pflegen, wenn sie nicht gerade halbnackt durch die Leopoldstraße liefen.  Natürlich rief dieses Bild einige Medien auf den Plan, die das Klischee entsprechend bedienten. So wurde aus dem ehemals so sympathischen Schwabing mehr und mehr ein Ort für Wichtigtuer und Selbstdarsteller, die Kommerzialisierung war nicht aufzuhalten.

Das Schwabing der Gebrüder Samy
Dazu kam, daß die Brüder Anusch und Temur Samy mit ihren revolutionären Konzepten ein ganz neues Profil nach Schwabing brachten, das des konsumorientierten Luxustempels.
Zunächst eröffneten sie das Lokal Datscha, dann am Wedekindplatz den Drugstore, ein gemütliches Lokal mit viel dunklem Holz und Messing, das bis heute existiert. Dann die pseudo-urige Wirtschaft Zur Brez’n. Aus der Schauburg am Elisabethplatz machten sie das Blow Up, das von 1967 bis 1972 ein legendärer Konzertsaal war, in dem u.a. Pink Floyd und Jimi Hendrix auftraten. Schließlich, der „Höhepunkt“, das Città 2000 in der Leopoldstraße. Ein Ladenzentrum mit verschiedensten Geschäften, mit Boutiquen, einer Plattenabteilung, einem Kino und  einem Sex-Shop. All das war sehr clever und trendy gestaltet, aber die davorstehende riesige offene Hand symbolisierte, worum es ging: um Geld.

Für uns stand damit Schwabing auf der Kippe, dem Kommerz geopfert zu werden. Mehr und mehr wurden aus der Feilitzschstraße und der Leopoldstraße Freß- und Saufmeilen. Mehr und mehr wurden schöne alte Bürgerhäuser besetzt, aber nicht von Hausbesetzern, sondern von Anwaltskanzleien und Werbeagenturen. Mehr und mehr wurde aus der Flaniermeile eine Feiermeile. 2011 schreibt Herbert Hauke in seinem Buch Münchner Rock-G’schichtn: „Heute ist Schwabing tot.“ *

So weit würde ich nicht gehen – Schwabing ist noch immer schön, aber eben nicht mehr so schön wie früher. Chuck Hermann jedenfalls behauptete 2009 in der SZ: „Ich bin sicher, eines Tages wird Schwabing wieder boomen“.

Wohlgemerkt, ich gehöre nicht zu denen, die immer behaupten, früher sei alles besser gewesen, ganz im Gegenteil. Aber das Schwabing von früher wird es nie wieder geben. Für uns stand ja 1970 glücklicherweise ohnehin der Umzug in die Innenstadt an. Wir verließen damit die Schwabinger „Heimat“ und haben es niemals bereut.

Gerhard Rühl, 15. Januar 2017

Weiterlesen bei Foto Schwabing

*Quelle: Herbert Hauke und Arno Frank Eser : Münchner Rock-G’schichtn, Volk Verlag München 2011

Leave a Comment