Man muß André Heller nicht mögen, aber man kann. Ich mag ihn. Nicht in all seinen Eigenheiten, aber in seiner Gänze. Auch für ihn gilt, daß man Menschen in ihrer Gesamtheit betrachten sollte anstatt sich Eigenschaften herauszusuchen, die einem ge- oder mißfallen.
Über seine Lieder und Texte bin ich in die Gedankenwelt von André Heller eingedrungen, und sie hat mich durchdrungen. Die häufig auftauchende Melancholie, in der ich durchaus etwas Positives sehe. Die Freude daran, Grenzen zu überschreiten und Unerwartetes zu präsentieren. Die Lust am feinsinnigen Fabulieren. Der gelegentliche Spott.
„Die Damen über fünfzig – für Karajan der Humus, für Bernstein nur die Claque“.
Besser und kürzer, sozusagen mit dem Florett statt mit der Keule, kann man das wohl nicht formulieren.
André Heller hat mir gezeigt, daß man Phantasien zulassen soll, auch wenn man sie nie so umsetzen kann, wie er das geschafft hat. Wie gerne denke ich zurück an den Circus Roncalli, an das Feuertheater in Lissabon, vor allem aber an „Flic Flac“, das ich nach wie vor als sein gelungenstes Spektakel bezeichne.
Sich nicht mit dem Bestehenden zu begnügen, sondern stets neue Herausforderungen zu suchen, hatte speziell in den 80er Jahren durchaus auch einen wichtigen Einfluß auf unsere Arbeit im SHIROKKO.
Durch André Heller wurde ich auch von einer unheilbaren Wien-Sucht befallen.
Ich habe diese Stadt und ihre kulturelle Vielfalt lieben gelernt. Ich habe Literaten wie Alfred Polgar und Anton Kuh kennengelernt, auf die ich ohne André Heller wohl nie gekommen wäre. Ich habe den typischen Sprachrhythmus von Thomas Bernhard erst so richtig begriffen bei einer Lesung von Heller im Wiener Metropol.
Aber gerade in Wien stößt Heller immer wieder auf Widerstand. In ihrem Buch „Ö3 – Die Story“ schreibt die frühere Ö3-Moderatorin Nora Frey über Hellers ersten Rundfunkauftritt: „In den ersten drei Stunden schaffte er es, 100.000 Leute zu beleidigen. Das Publikum teilte sich blitzschnell in Heller-Hasser und Heller-Bewunderer.“
So ist es wohl geblieben. Manche Kritik kann ich nachvollziehen, manche nicht. Schon gar nicht die Häme, mit der man Heller gelegentlich überschüttet hat. Man hat ihm vorgeworfen, sich mit seinen prominenten Freunden zu brüsten, sich mit fremden Federn zu schmücken. Als müßte ich ihn verteidigen, habe ich akribisch Zeitungsausschnitte und Dokumente gesammelt, habe böse Leserbriefe an diverse Zeitungen abgeschickt. Ich habe auch Dutzende von VHS-Kassetten mit Hellers Auftritten – ein umfangreiches Archiv, von meiner Frau spöttisch als Heller-Altar bezeichnet.
Letzlich genügt für die Einschätzung dieses Menschen aber, so meine ich, eine einzige Begebenheit:
Wir besuchten André Heller in seinem Haus in Hietzing. Durchaus freundlich gestimmt zeigt er uns sein Arbeitszimmer, das bis zum Rand gefüllt ist mit Kultur. An den Wänden ist kein Quadratzentimeter frei, alles ist voll mit Gemälden und Bildern. Eine beeindruckende Ansammlung von Kunstwerken, Dokumenten, Erinnerungsstücken, Figuren – vor allem aber von Büchern.
Später sitzen wir auf der Terrasse und reden über Wiener Literaten. Ich sage „Schade, daß von Herzmanovsky-Orlando momentan nichts verlegt ist“. Heller sagt „Stimmt doch nicht!“. Er steht auf, geht in sein Zimmer und kommt, ich schwöre, nach wenigen Sekunden zurück. Mit dem Buch in der Hand!
Da wußte ich: das ist keine Staffage, kein Museum, keine Show. Das ist gelebte Kultur – und all das, was in seinem Arbeitszimmer ist, ist gleichzeitig auch in Hellers Kopf. Jederzeit greifbar und abrufbar.
Ich habe es sehr bedauert, daß André Heller nicht mehr als Sänger oder auch Vorleser auftritt. Aber ich kann es andererseits nachvollziehen, daß er seinen Kopf auch immer wieder freibekommen muß – mittlerweile tut er dies in seinen Gärten, erst am Gardasee, jetzt in Marokko. Vielleicht muß solch ein Gehirn, wie eine Festplatte, gelegentlich neu geordnet werden und von unnötigem Ballast befreit werden.
Ich wünsche André Heller, daß diese Übung gelingen möge. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß er uns dereinst wieder einmal mit einem Bühnenprogramm erfreuen wird. Er ist ja schließlich erst siebzig. Leonard Cohen hat gezeigt, daß man auch in diesem Alter die Leute noch begeistern kann. Eine Verbindung aus Liedern und Texten wäre auch heute noch ein wichtiger Beitrag zur deutschsprachigen Kultur. Vielleicht sogar wichtiger denn je…
Wenn es nicht dazu kommen sollte bleibt mir als Trost: die wahren Abenteuer sind im Kopf.
Verfaßt von Gerhard Rühl am 22. März 2017 anläßlich des 70. Geburtstags von André Heller