Die Eröffnung ist geschafft, mit den Frauen hat man sich auch soweit arrangiert, jetzt beginnt der sogenannte Normalbetrieb. Halt, erst einmal muß ein Flugblatt her, damit man auch entsprechend auf sich aufmerksam machen kann…
und dann ist auch gleich ein Grund für ein Zeitungsinserat gekommen:
So macht sich Irmgard an die Arbeit, Platten zu organisieren und an den Mann und die Frau zu bringen.
Das ist in der damaligen Zeit gar nicht so leicht, denn Pop-Musik fristet im Bewußtsein der Plattenindustrie noch immer ein kümmerliches Dasein. Da ist jede Menge Aufbauarbeit angesagt…
Am 10. und 11. Juli findet im neu erbauten Eisstadion ein Musikfestival statt. Es wird von der Abendzeitung veranstaltet und nennt sich „Euro-Pop ’70“. Über die Durchführung dieses Festivals wird noch gesondert zu schreiben sein. Was mir hier wichtig ist: die Akzeptanz respektive Ablehnung in der Bevölkerung und das noch immer vorhandene und voreingenommene Echo in den Medien.
Zwar stand in der Abendzeitung in der Vorschau:
Hören die Leute Pop-Festival, denken sie oft an Langhaarige, Ungewaschene, an eine gefürchtete APO, denken an Rauschgift, Schlägereien, oder – noch schlimmer – schaudernd an sexuelle Orgien bei „dieser Hottentottenmusik“.
Diese Vorstellungen und Befürchtungen sind jedoch meist nur in der Phantasie der Menschen vorhanden, die die jungen Leute unbewußt um ihre heutige relativ freie und unkomplizierte, zum Teil im Ansatz emanzipierte Lebensform beneiden.
Da sie selbst nicht mehr aus ihrem starren, von der Gesellschaftsform geprägten Leben herauskommen, verwandelt sich der Wunsch in das Gegenteil: in Ablehnung. Es wäre zu wünschen, daß man mehr Toleranz, mehr Verständnis und vielleicht auch etwas mehr Humor für junge Leute aufbringt, die nicht „schlechter“ sind als deren Väter in den zwanziger Jahren.
Mag das bunte Bild eines Pop-Festivals und das ungezwungene Benehmen der Besucher auf manche leicht verwirrend wirken; nicht jeder Langhaarige stinkt und spritzt Heroin, nicht jedes Paar, das sich während der Musik küßt, ist auf dem Weg zur sogenannten „Unzucht“. Statt Vorurteile sollten Verständnis und Diskussionsbereitschaft herrschen. Auch dafür ist das AZ-Musikfestival im Münchner Eisstadion da.
Quelle: Abendzeitung vom 25. Juni 1970
Dennoch schreibt ein gewisser St.R. in der Süddeutschen Zeitung:
Zwei Tage Münchner Pop Festival sind vorbei. Im Olympia-Eisstadion spielten am Freitag und Samstag 22 Bands vor durchschnittlich 10 000 Wochenend-Hippies, Gammlern, Pop-Fans, langhaarigen Hasch-Konsumenten und vor 200 Polizisten in Zivil, die meist zur vollen Stunde abkassierten. Filmproduzent Alois Brummer aus Pasing (sonst zuständig für Graf Porno) besaß die Exclusivfilmrechte und erhoffte sich wohl mehr als geschah: Denn das Pop-Festival verlief friedlich.“
Wer ist wohl dieser „St.R.“? Wer hat den auf das Festival losgelassen? Besonders gut scheint er sich jedenfalls in der Jugendkultur nicht auszukennen. Denn er schreibt u.a.:
„Es waren viele Bands da, doch nur wenige wirklich gute: die „Taskes“ mit ihrem Gitarristen Rory Galleghir.“
Gemeint sind natürlich The Taste mit Rory Gallagher.
Jetzt, liebe Leser, können Sie sich sicher vorstellen, daß wir damals meist auf Kriegsfuß standen mit Journalisten, besonders jenen, die über Musik berichteten. Wie heute kannte man auch damals als regelmäßiger Zeitungsleser seine „Pappenheimer“. Man wußte schon beim Namen des Verfassers worauf die Kritik hinauslief und hatte entsprechende Feindbilder (ich will hier lieber keine Namen nennen). Es gab zwar wenige löbliche Ausnahmen, meist waren die Kritiken aber ärgerlich.
So schreibt beispielsweise Michael Jürgs, später Chefredakteur des Stern, im Dezember 1970 über die LP ‚Untitled‘ der Byrds: „Eingängig wie die Bee Gees, aber genau wie diese geleckt und langweilig“.
Jürgs holt sich dann auch gleich eine Abfuhr von Irmgard, die ihm ironisch schreibt: „Bravo, Herr Jürgs. Gut so!“…und weiter:„Es ist immerhin schon sehr viel, daß Sie sich noch an Mr. Tambourine Man erinnern. Aber doch viel zu wenig. Die Byrds waren und sind immer noch eine der wichtigsten Gruppen der Pop-Musik. Sollte Ihnen das wirklich nie zu Ohren gekommen sein?? Sicher hatten Sie auch wenig Zeit, sich das Album bewußt anzuhören. Sonst hätten Sie spätestens bei ‚Eight Miles High‘ merken müssen, daß sich hier Vollblutmusiker buchstäblich den „Arsch abspielen“, wie es in Fachkreisen so schön heißt. Damit hätten Sie sich wenigstens den peinlichen Vergleich mit den Bee Gees erspart.“
Ja, das war sie, die kämpferische und zornige Art, mit der sich Irmgard ausdrückte, die uns in den kommenden Jahren viel Lob aber auch Tadel einbringen sollte. Ich habe jedenfalls davon viel gelernt und offenbar auch übernommen…
Am 18. September findet im Circus Krone das sogenannte Rauschgift-Informations-Festival im Circus Krone statt. Schon die Gestaltung des Posters läßt erkennen, worum es geht: das Wort Information ist deutlich kleiner geschrieben…
Weitere Kommentare zu dieser merkwürdigen Veranstaltung finden Sie auf meiner Seite Drogen.
Aber der Circus Krone, damals der wichtigste Veranstaltungsort für Popkonzerte, hatte auch Highlights zu bieten:
Pink Floyd im Circus Krone
Am 29. November 1970 findet ein legendäres und spektakuläres Konzert im Circus Krone statt: Pink Floyd, zur damaligen Zeit der Inbegriff der progressiven und psychedelischen Musik!
Die Band hat Lautsprecherboxen in den oberen Rängen des Rundbaus installiert. Rick Wright, der Keyboarder, hat ein kleines Kästchen vor sich, das aussieht wie ein prähistorischer Joystick. Mit diesem Gerät, einem Ringmodulator, kann er den Sound rund um den Saal „jagen“. Der Wahnsinn, völlig abgefahren, psychedelic eben! Ich habe einen Cassettenrecorder reingeschmuggelt und das Konzert aufgenommen.
Die Cassette habe ich heute noch – leider aber kein Abspielgerät mehr…
Knapp vierzehn Tage später, am 13. Dezember 1970, erneut im Circus Krone, ein weiteres Highlight: Frank Zappa! An dieses Konzert (es war wohl noch in der Urbesetzung, u.a. mit dem famosen Ian Underwood) kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Ich bin aber sicher, ich war begeistert, so wie bei allen Zappa-Konzerten, außer dem letzten…
Das war dann wohl das letzte Highlight des Jahres…
Jetzt geht es daran, vor Weihnachten die Herzen der Fans mit den Platten des Jahres zu erfreuen:
Die Platten des Jahres 1970
Frank Zappa : Chunga’s Revenge
Zwar offiziell ein „Soloalbum“, aber es sind jede Menge famoser Musiker zu hören: Ian Underwood, Aynsley Dunbar,
Sugarcane Harris, George Duke und, zum ersten Mal dabei,
Flo & Eddie (ehemals Sänger der Turtles)
Pink Floyd : Atom Heart Mother
Nicht nur das Cover war eine Sensation (ohne jeden Namen der Band…), auch die Musik war außergewöhnlich: Orchester und Chor im 23minütigen Titelstück, Soundeffekte im ‚Psychedelic Breakfast‘, aber auch sanfte Songs, die den späteren Stil der Floyd einleiteten.
Hörproben
Emerson, Lake & Palmer
Nach Cream und Blind Faith war ELP eine weitere Supergroup,
Keith Emerson kam von der Gruppe The Nice, Greg Lake von King Crimson und Carl Palmer von Atomic Rooster.
Damit schufen die drei ein wichtiges Debutalbum, dem noch weitere folgen sollten.
Hörproben
Van Morrison : Moondance
Das erste Meisterwerk des ehemaligen Sängers von Them als Solokünstler – mit einer formidablen Begleitband, mit sehr jazzigen Arrangements, und mit großartigen Songs, die noch heute zum Repertoire mancher Jazzsänger gehören.
Hörproben
Live Video von 1996
Deep Purple In Rock
Deep Purple waren nie wirklich „mein Fall“ – aber diese LP war richtungsweisend. Sie war eine der ersten Hard-Rock-Aufnahmen und sollte später einen starken Einfluß auf Heavy Metal ausüben
Nun folgen noch drei ganz persönliche Empfehlungen aus dem Jahr 1970
Brinsley Schwarz
Die LP (u.a. mit Multitalent Nick Lowe) wurde von der Presse leider etwas unterbewertet, weil vielleicht etwas „süsslich“ klingend…
Mir gefällt sie heute noch.
Nick Drake : Bryter Layter
Diese LP des 1974 verstorbenen Singer/Songwriters ist unfaßbar schön, mit tollen Songs und mit großartigen Begleitmusikern, u.a. Mitglieder von Fairport Convention und mit John Cale von Velvet Underground.
Völlig zurecht ist dies (im Original) eine der meistgesuchten Vinyl-Scheiben! Hörproben
Curved Air : Air Conditioning
Das war eine der ersten Picture Discs, die Motive mittels einer Folie auf Vinyl aufgezogen. Die Klangqualität war zwar prähistorisch, aber die Musik begeisternd, nicht nur wegen der charismatischen Sängerin Sonja Kristina. Über Curved Air werde ich in den kommenden „Jahren“ noch berichten… Hörproben
So das waren nun „unsere“ Highlights des Jahres 1970. Hier sind weitere wichtige Platten des Jahres, das ist nur eine kleine Auswahl, längst nicht alles! Ob es jemals wieder ein Jahr geben wird, in dem derart viele herausragende LPs erscheinen, die noch nach Jahrzehnten nichts an Qualität eingebüßt haben? Wohl kaum!
The Taste: On The Boards — Syd Barrett : The Madcap Laughs — Simon & Garfunkel : Bridge Over Troubled Water — Mothers Of Invention : Burnt Weeny Sandwich — The Doors : Morrison Hotel — James Taylor : Sweet Baby James — Crosby, Stills, Nash & Young : Déjà Vu — Jimi Hendrix : Band Of Gypsys — Miles Davis : Bitches Brew — Joni Mitchell : Ladies Of The Canyon — Ten Years After : Cricklewood Green — Jethro Tull : Benefit — Eric Burdon declares WAR — Woodstock — King Crimson : In The Wake Of Poseidon — Soft Machine Three — Free : Fire & Water — Supertramp — The Doors : Absolutely Live — Traffic : John Barleycorn Must Die — Hawkwind — Caravan : If I Could Do It, I Would Do It All Over Again — Rolling Stones : Get Yer Ya Ya’s Out — The Byrds : Untitled — Neil Young : After The Gold Rush — Santana : Abraxas — Led Zeppelin III — Elton John : Tumbleweed Connection — Grateful Dead : American Beauty — David Bowie : The Man Who Sold The World — Stephen Stills — Cat Stevens : Tea For The Tillerman — George Harrison : All Things Must Pass —- Family : Anyway — Peter Green : The End Of The Game — Ry Cooder Vol. 1 — Kraftwerk — Amon Düül II : Yeti.
Was sonst noch geschah im Jahr 1970
Salvador Allende wird Präsident in Chile +++ Ulrike Meinhof befreit Andreas Baader aus einer Bibliothek +++ in den USA werden bei Protestkundgebungen Dutzende Studenten erschossen +++ Die Gruppe TonSteineScherben wird gegründet +++ Der Kuppeleiparagraph (§180 StGB) wird abgeschafft +++ Ende August findet auf der englischen Isle Of Wight ein Pop-Festival vor 600.000 Zuschauern statt +++ Jimi Hendrix stirbt am 18. September im Alter von 27 Jahren +++ Janis Joplin stirbt am 4. Oktober, ebenfalls im Alter von 27 Jahren +++
Eine Langspielplatte kostet 22 Mark. Ein Liter Benzin kostet 57 Pfennig.
Für den Preis einer LP kann man also einen R4 volltanken.
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und nun noch, zum Abschluß, ein paar Informationen zu meinem Jahr 1970:
Nach dem Abitur im Mai wurde ich am 1. Juli zum Wehrdienst eingezogen. Ich hatte zwar wegen meiner Migräne-Anfälle ein wasserdichtes Attest, das wurde zunächst aber nicht anerkannt. Doch nach einer Untersuchung im Bundeswehrhospital wurde ich am 10. August wieder entlassen.
Nun war die Frage, was tun? Studieren kam nicht in Frage. Im SHIROKKO war ich nur sporadisch und im Hintergrund beschäftigt mit Gestaltung usw. usw. Irmgard schaffte den Laden ja ohnehin allein.
Da erfuhr ich, daß Radio-RIM in der Theatinerstraße eine Popabteilung aufbauen wollte. Ich bewarb mich und bekam den Job. Dort habe ich einen lieben Kollegen kennengelernt, Klaus-Dieter Schreiber.
Das sollte Folgen haben. Wartet nur auf 1971! Es wird zunächst ein Krisenjahr
Gerhard Rühl, 24. Januar 2017
Lieber Gerhard,
meine Güte; ist das klasse! – Wunderbar, dass Du so viele Dokumente etc. archiviert hast. Da werden Erinnerungen wach 🙂 – Vielen Dank. Bin gespannt auf die kommenden Folgen. Herzliche Grüße aus Freiburg/Reinhard (Müsste man fast mal ne Ausstellung machen ..)