Als 1961 die Anti-Baby-Pille auf den Markt kam, war der Aufschrei groß. Moralwächter traten auf den Plan, die Kirche befürchtete ein neues Sodom und Gomorrha.
Natürlich nützten Mädchen und Frauen nun die Möglichkeit der Empfängnisverhütung. (Als junges Mädchen brauchte man allerdings eine verständnisvolle Mutter und eine gute Ärztin).
Natürlich war die Angst vor einer Schwangerschaft kleiner geworden.
Natürlich gab es viele, die die neue Freiheit ausführlich genossen und die Promiskuität auslebten.
Bald gab es auch Kommunen, die die „freie Liebe“ predigten und stolz anzügliche Nacktfotos veröffentlichten. Logischerweise brachte die Befreiung von Prüderie und gesellschaftlichen Zwängen zunächst eine übertriebene (vermeintliche) Sexualisierung mit sich.
Ein berühmter Spruch hieß damals „wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“.
Wie lange sich solche Dinge in den Köpfen festsetzen und damit zum Klischee werden, zeigt sich daran, daß Uschi Obermaier im August 2012 (!) in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung genau danach befragt wurde. Ihre Antwort: „es war einfach nur ein flotter Spruch„.
Ich behaupte: die herkömmliche, wenn nicht sogar überkommene, Moral wurde zwar in Frage gestellt. Aber unmoralisch war die damalige Zeit keineswegs. Ganz im Gegenteil, man richtete seine moralischen Kategorien auf Bereiche wie den Vietnam-Krieg, die Atomrüstung, den Kapitalismus und andere Probleme. Und man nutzte die Zurschaustellung eigener Freiheit als Provokation. Was aber nichts daran änderte, daß es auch damals Liebeskummer und –dramen gab, Trennungsängste ebenso wie starke Bindungen.
Und nicht zuletzt behaupte ich, daß diversen Medien die freiere Gesellschaft in ihrem Voyeurismus gerade recht kam. Kaum eine Zeitung ließ es sich nehmen, über die vermeintlich enthemmte Jugend zu berichten. Das „garnierte“ man dann mit aufreizenden Bildern von Mädchen in Miniröcken – dabei wollten diese Mädchen doch eher ihre Selbständigkeit zeigen als sich zum Objekt der Begierde zu machen.
Es begann eine sogenannte Aufklärungswelle, Oswald Kolle und Dr. Sommer (in der Bravo), die ersten Softpornos kamen auf den Markt, Filme wie „Schulmädchenreport“. Insofern ist auch die Darstellung der damaligen Zeit in weiten Teilen überzogen, wenn nicht gar verlogen.
Ein Beispiel dafür: im Juni 1970 fand in der Eissporthalle ein dreitägiges Pop-Festival statt.
Die Filmrechte dafür besorgte sich Alois Brummer, genannt der Porno-Brummer, der Filme gedreht hatte wie „Graf Porno und seine Mädchen“. Was hatte Brummer wohl erwartet – anstößige Szenen im Publikum, Sex auf der Bühne? Die Gruppe Amon Düül verweigerte den Auftritt, das hatte mehrere Gründe, aber auch wegen der Vergabe der Filmrechte an Alois Brummer. Ein Zeichen von Unmoral?
Nein, wir hatten nicht gegen Moral zu kämpfen, sondern gegen Doppelmoral. Wir hatten zu kämpfen gegen restriktive Gesetze (§§ 175, 180, 184, 218). Wenn Frauen ihre BHs verbrannten oder sagten „Mein Bauch gehört mir“, dann war das kein Zeichen enthemmter Lebensweise, sondern der Versuch, sich zu emanzipieren. Auch wenn das vielleicht manchmal etwas zu weit ging – die zentrale Botschaft war die von Alice Schwarzer initiierte Aktion gegen den Abtreibungsparagraphen. 374 Frauen, darunter viele Prominente wie Romy Schneider oder Senta Berger behaupteten „ich habe abgetrieben“.
Dagegen waren alle aktionistischen und spekulativen Veröffentlichungen Kleinkram, über den man heute ohnehin meist nur noch schmunzeln kann.
Gerhard Rühl, 15. Januar 2017
Nachsatz: Daß ich das Thema Kommune hier nicht näher anspreche, hat zum Einen den Grund, daß ich nie Mitglied einer solchen war und deshalb auch kein Urteil abgeben kann. Zum Anderen: in München gab es zwar die High-Fish-Kommune, die Frauenkommune, sicherlich auch ein paar andere, weniger bekannte. Aber auch das waren Ausnahmen, nicht die Regel. Vereinzelt mag es solche Wohngemeinschaften gegeben haben – die Realität war jedoch, daß es für Unverheiratete nahezu unmöglich war, überhaupt eine Wohnung zu bekommen.
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