Aufbruchstimmung

Vor ein paar Jahren fragte mich meine Mitarbeiterin Karo, ob ich ihr für ihr Seminar an der HFF ein paar Angaben machen könne. Der Titel war so ähnlich wie  „Gammler und Nichtstuer Ende der 60er“. Ich war entsetzt. Hatte sich das Klischeebild über Jahrzehnte gehalten? Waren wir damals wirklich Gammler und Nichtstuer, arbeitsscheue Verweigerer? Ich behaupte: nein.

Natürlich gab es damals, wie zu allen Zeiten, viele Menschen, die sorglos in den Tag hineinlebten. Vielleicht gab es ja sogar in dieser Zeit mehr davon. Aber woher kam überhaupt der Begriff „Gammler“? In der Betrachtung eines konservativen Aktentaschenträgers war man ja schon ein Gammler, wenn man die Haare über den Kragen wachsen ließ. Oder wenn man nachmittags im Englischen Garten oder an der Leopoldstraße saß, anstatt zu arbeiten oder wenigstens zu lernen. So wurden die Menschen, die endlich sie selbst sein und für sich selbst entscheiden wollten, beschimpft und verunglimpft.

Aber: war es nicht viel mehr ein Charakteristikum der damaligen Zeit, Ende der 60er Jahre, daß man etwas bewegen wollte, etwas verändern, etwas auf die Beine stellen?
Wir hatten unseren Eltern alle möglichen Fragen gestellt, die meisten blieben unbeantwortet, und so  hatten wir noch immer mit dem Mief der Nachkriegszeit zu kämpfen. Das wollten wir nicht mehr länger dulden, wir wollten raus aus der Stimmung „das haben wir noch nie gemacht“, „das kommt ja nicht in Frage“, „wo kämen wir da hin“. Wir wollten raus aus der strengen Regulierung, raus aus den Vorschriften.

Man war damals erst mit 21 Jahren volljährig, brauchte also für alles die Zustimmung des „Sorgeberechtigten“. Wenn man zur Untermiete wohnte, durfte man nach 22 Uhr keinen Besuch empfangen. Es gab noch (bis 1973!) den Kuppeleiparagraphen (§180 StGB), der verbot, daß sich unverheiratete Paare in einer Wohnung trafen zum Zwecke sexueller Handlungen, selbst wenn es die elterliche Wohnung war. Wenn man als unverheirates Paar eine Wohnung mieten wollte, bekam man Schwierigkeiten, respektive: keine Wohnung!

Ja, all das gab es noch, und viel mehr. Andauernd hörten wir „Das tut man nicht“, „das schickt sich nicht“, „was sollen die Nachbarn denken“. Wenn man etwas anfangen wollte, eine Idee verwirklichen, hieß es meist: das geht sowieso nicht.
Recht oft werde ich von jüngeren Leuten beneidet mit den Worten „das muß eine schöne Zeit gewesen sein“. Nein, es war keine wirklich schöne Zeit. Es war noch immer eine miefige, verlogene und heuchlerische Zeit. Aber wir haben sie uns schön gemacht – oder auch schön geredet.

Vielleicht waren wir etwas zu kopflastig, so wie Sybille Lewitscharoff es in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Januar 2009 so treffend beschrieb:
„Es wurde geredet und geredet. In der Rückschau will’s mir vorkommen, als hätte ich zehn Jahre lang wie eine Irrsinnige gelesen und geredet. Das versammelte deutsche Unglück haben wir uns in einem gigantischen Redestrom von der Seele gewälzt. Schwatzschwatz, meistens ernst, selten witzig, das ging hin und her, das wollte überhaupt nie mehr enden. Der Themenmix war außerordentlich: die asiatische Produktionsweise, was tut sich an der Sexfront, alte und neue Schrecken der Familie, Faschismus, Kiesinger, Vietnam, der Duft der Madeleine, Thomas Mann als bürgerliches Aas, woran starb Majakowski, die neuesten Songs von den Doors, Klatsch, Liebeskummer, wie läßt sich Eifersucht vermeiden, wie stellt man Hegel vom Kopf auf die Füße, was will Godard, was will Pasolini, was wollen die Feministinnen, zu guter Letzt: Was sagt uns Freud.“

Die Münchner Abendzeitung schrieb am 25. Juni 1970 in einem Kommentar zum Pop-Festival:

Hören die Leute Pop-Festival, denken sie oft an Langhaarige, Ungewaschene, an eine gefürchtete APO, denken an Rauschgift, Schlägereien, oder – noch schlimmer – schaudernd an sexuelle Orgien bei „dieser Hottentottenmusik“.
Diese Vorstellungen und Befürchtungen sind jedoch meist nur in der Phantasie der Menschen vorhanden, die die jungen Leute unbewußt um ihre heutige relativ freie und unkomplizierte, zum Teil im Ansatz emanzipierte Lebensform beneiden.
Da sie selbst nicht mehr aus ihrem starren, von der Gesellschaftsform geprägten Leben herauskommen, verwandelt sich der Wunsch in das Gegenteil: in Ablehnung.
Es wäre zu wünschen, daß man mehr Toleranz, mehr Verständnis und vielleicht auch etwas mehr Humor für junge Leute aufbringt, die nicht „schlechter“ sind als deren Väter in den zwanziger Jahren.
Mag das bunte Bild eines Pop-Festivals und das ungezwungene Benehmen der Besucher auf manche leicht verwirrend wirken; nicht jeder Langhaarige stinkt und spritzt Heroin, nicht jedes Paar, das sich während der Musik küßt, ist auf dem Weg zur sogenannten „Unzucht“.
Statt Vorurteile sollten Verständnis und Diskussionsbereitschaft herrschen. Auch dafür ist das AZ-Musikfestival im Münchner Eisstadion da.

Ja, liebe Leser, genau so war es. Daß dieser Text noch 1970 überhaupt verfaßt werden mußte, spricht Bände. Wir hatten also noch eine Menge zu tun und zu verändern. Wir waren fest entschlossen, dies zu verwirklichen. Mit unseren Ideen, unserem Mut, unserer Energie und unserer Zuversicht.

Gerhard Rühl, 15. Januar 2017

Weiter geht es mit: Moral

Leave a Comment