Okwui Enwezor

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Okwui Enwezor, geboren im Oktober 1963 in Nigeria, ist am 15. März 2019 verstorben. Er war unter anderem Leiter der documenta in Kassel, künstlerischer Leiter der Biennale di Venezia im Jahr 2015 – und er war von 2011 bis 2018 Direktor des Museums Haus der Kunst in München.

Okwui Enwezor
wohnte nur zwei Straßen von unserem Laden entfernt. Wenn er samstagvormittags auf dem Weg zum Markt am SHIROKKO vorbeikam, versäumte er es nie, uns zu grüßen, mit den Armen zu winken oder auf ein kurzes Gespräch herein zu kommen.
Dezent aber persönlich gekleidet wirkte er bescheiden und unaufgeregt, ein netter Nachbar eben. Wegen seiner unprätentiösen Art wäre man wohl nie auf die Idee gekommen, daß er ein international gefeierter Museumsdirektor und Kurator war. Der sein Leben den schönen Künsten widmete und dabei nie die Bodenhaftung verlor.
Ende 2015 gab ich ihm ein paar seltene Schallplatten aus seiner Heimat Nigeria. Er wollte sie auf dem Rückweg mitnehmen. Nun gibt es keinen Rückweg mehr – das SHIROKKO ist geschlossen und Okwui Enwezor ist tot. Es wird keine weiteren Treffen mehr geben.

Wir haben Sie geliebt, Mister Enwezor, wegen Ihrer Natürlichkeit und Fröhlichkeit. Wir haben Ihren musikalischen Geschmack bewundert. Wir haben Ihre Zuneigung sehr geschätzt.
Wir vermissen Sie sehr – aus eben diesen Gründen. Und Ihr herzliches Lachen werden wir nie vergessen.

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Anläßlich des Todes von Okwui Enwezor habe ich meine Besprechung der ECM-Ausstellung im Haus der Kunst aus dem Jahre 2012 reaktiviert, für die er maßgeblich verantwortlich war, die ohne ihn wohl auch nie zustande gekommen wäre. Wie so oft spielte der Zufall hier eine große Rolle. Denn eines Tages besuchte Enwezor in einem New Yorker Jazzclub ein Konzert des Pianisten Jason Moran. Beim anschließenden Gespräch erzählte ihm dieser, daß er für ein Münchner Label namens ECM arbeitete. Weil Enwezor wußte, daß er bald Direktor des Münchner Haus der Kunst werden würde, nahm er Kontakt mit ECM auf – in Zusammenarbeit mit dem Chef Manfred Eicher, dem ECM-Team und mit Markus Müller entstand dann die Ausstellung ‚ECM – a cultural archaeology“. Wir haben in unserem Laden sehr gerne Werbung dafür gemacht…
Foto: Copyright Gerhard Rühl / SHIROKKO

Eine Kathedrale der Kultur
Gedanken zur ECM-Ausstellung im Haus der Kunst, November 2012 – Februar 2013

Musik hat keinen Ort, sagt Manfred Eicher. Die Musik, die er für ECM aufgenommen und produziert hat, ist aber vorübergehend im Haus der Kunst eingezogen. Mehr noch: sie hat sich eingenistet, ausgebreitet, erfüllt die Räume. Sie wird begehbar und erlebbar.

Der ECM-typischen Ästhetik folgend hat man die Ausstellung extrem attraktiv gestaltet, reduziert und gleichzeitig opulent. Manfred Eicher hat seine Archive und Asservatenkammern geöffnet und viele Dokumente zur Verfügung gestellt. Da finden sich Fotos und Notenblätter, Plattencovers und Entwürfe, wie beispielsweise die der großartigen Grafikerin Barbara Wojirsch. Wieviel schöner und dynamischer waren doch die großen LP-Covers im Vergleich zu CD-Hüllen! (Es gibt in der Ausstellung keine CDs zu sehen!).
Auf vielen Hörstationen kann man „historische“ und aktuelle Aufnahmen geniessen, vorgefertigt oder auch selbst anwählbar. Ein besonders geglücktes Beispiel: in einer Vitrine liegen Aufzeichnungen zu Steve Reichs „Music For 18 Musicians“, darüber Lautsprecher in einer großen Plastikglocke. Bewegt man nun den Kopf, bekommen die ohnehin schon oszillierenden Rhythmen der Minimal Music eine zusätzliche irisierende Wirkung. Genial!
Auf zahlreichen Bildschirmen und in eigenen schallschluckend ausgestatteten Räumen werden filmische Dokumente gezeigt und Livemitschnitte gezeigt. Schon im Aufgang erklingt die fulminante Wucht des Art Ensemble Of Chicago in Überlebensgröße. So läßt sich Musik in einem Museum darstellen, so wird sie förmlich greifbar und körperlich erfaßbar.

Daß die Musik aber eine weitere, materiell faßbare Dimension bekommt, liegt vor allem am Archiv der Originalbänder. Schon in der ersten Vitrine liegt eine Magnetbandspule, groß wie eine Sachertorte. Darauf enthalten: 30 Minuten Musik von Keith Jarrett. So wie diese Spule da liegt, ist sie ein souveränes Sinnbild von äußerer und innerer Qualität.

Foto: Copyright Ralf Dombrowski
Im gleichen Raum dann das Herzstück der ganzen Ausstellung: ein gigantisches, die gesamte Breite und Höhe des Raumes einnehmendes Regal mit den Originalbändern aus vier Jahrzehnten! Ein Exponat von unschätzbarem Wert und von einer derartigen Ausdruckskraft, daß man sich andächtig niederknien möchte.

Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, daß diese Wand irgendwann vielleicht endgültig im Museum landet, weil es keine Geräte mehr geben wird, die diese Bänder abspielen können. Digitalisiert würde all die Musik auf eine transportable Festplatte passen, vielleicht sogar auf einen iPod. Den könnte man dann als Symbol daneben legen – und es wäre, als würde man neben einer Kathedrale eine Autobahnkapelle errichten. Beide erfüllen vielleicht den gleichen Zweck, qualitativ liegen aber Welten dazwischen.

Insofern ist diese Wand, wie die gesamte Ausstellung, auch eine Mahnung davor, reale Werte nicht durch virtuelle Realität zu ersetzen. Der Qualitätsverlust wäre immens.

Für mich ist die ECM-Ausstellung auch eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Die meisten der Plattencovers kenne ich, viele davon stehen im eigenen Schrank. Aber es würde mich interessieren, wie ein jüngerer Besucher diese Ausstellung wahrnimmt. Bekommt er auch nostalgische Gefühle beim Betrachten der Exponate? Betrachtet er diese als Relikte aus einer vergangenen Zeit? Denkt er gar „so war’s einmal, so wird’s nie wieder“? Das wäre in der Tat fatal. Denn die richtige Folgerung lautet für mich: „so war’s einmal, so muß es wieder werden“. Nicht in technischer Hinsicht, das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Aber im Zugang zur Musik.
Die Ausstellung zeigt uns – vor allem jenen, die Musik nur noch aus dem Internet kennen – daß wir Musik als Werk begreifen müssen, nicht als bloße Datei, die körperlos umherschwirrt und jederzeit verfügbar ist. Denn das hat Manfred Eicher ganz sicher nicht gemeint, wenn er sagte „Musik hat keinen Ort“.

Vielleicht hat Musik wirklich keinen Ort, aber sie hat eine Quelle und ein Ziel. Sie entsteht in den Köpfen, Herzen und Händen der Musiker und Produzenten; sie zielt auf die Seelen der Hörer. Dabei transportiert sie Gefühle und innere Werte. Genau das wird in der ECM-Ausstellung überdeutlich. Sie demonstriert die menschliche Komponente und  zeigt die Leidenschaft der Musiker.
Damit macht sie dem Besucher auch Lust, sich mit der vielfältigen Musik des Labels zu beschäftigen, mit der ganz eigenen ECM-Ästhetik, der herausragenden Klangqualität. Wie ein Archäologe, der hofft, etwas Unbekanntes, einen verborgenen Schatz, zu finden. Und der hier im Übermaß fündig wird. 

Gerhard Rühl, 26. November 2012

Foto: Copyright Ralf DombrowskiP.S.: Mein aufrichtiger Dank an Okwui Enwezor und das Team des Haus der Kunst; und an Manfred Eicher und das Team von ECM Records, die diese erhellende Ausstellung möglich gemacht haben.

 

 

 

Foto: Copyright Prestel Verlag München
Zu dieser Ausstellung ist im Münchner Prestel-Verlag ein opulentes Buch erschienen (in deutscher und in englischer Sprache). Beide Versionen sind leider längst vergriffen, aber es lohnt sich, danach im modernen Antiquariat zu suchen (wenn Sie das Buch nicht ohnehin längst besitzen…)




Fotorechte: Ralf Dombrowski (3:Okwui Enwezor, Enwezor & Eicher, Mastertapes wall), Haus der Kunst (Mastertapes Detail), Prestel Verlag (Buch), Gerhard Rühl/SHIROKKO (ECM Dekoration)


Foto: Copyright Haus der Kunst /ECM München

english translation



Okwui Enwezor, born October 1963 in Nigeria, died on March 15th 2019. He was curator of many exhibitions worldwide an director of famous festival such as the documenta in Kassel and the Biennale di Venezia. From 2011 to 2018 he was director of the museum Haus der Kunst in Munich.

Okwui Enwezor used to live only two blocks away from our shop. When he passed the SHIROKKO on Saturday mornings on his way to the market, he never forgot to greet us, waving his arms or coming in for a small talk.
Dressed up in a very personal but always modest manner he looked like the man-next-door, a humble neighbour. Regarding his unpretentious behaviour you’d never have come to the idea that he is a renowned art director and curator. A really impressive person, dedicating his life to arts but never leaving the ground.

One day I offered him some rare recordings of music from his home country. He wanted to take them on his way back. Now there is no way back. The SHIROKKO is closed – and Okwui Enwezor is dead. No further occasion to meet him. What a loss.

We loved you, Mr. Enwezor, for your understatement, your kindness, your cheerfulness. We admired your musical taste and knowledge. We appreciated your obvious affection. And we dearly miss you – exactly for those reasons.

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After Okwui Enwezors tragical death I reactivated my review of the ECM Exhibition in Munich’s Haus der Kunst in the year 2012. This exhibition would not have been possible without him, and without a coincidence: one day Enwezor visited a concert by pianist Jason Moran in New York. The artist later told him that he is working for a Munich based label named ECM Records. As he knew he’d become director of the Haus der Kunst before soon, Okwui Enwezor got in touch with the ECM team and its chief Manfred Eicher. So this highly acclaimed exhibition came to life. It was named „ECM – a cultural archaeology“.
I  gave it the subtitle „A cathedral of culture“  and gladly displayed the poster in my store.

Photo copyright Gerhard Rühl / SHIROKKO

 

A cathedral of culture

Reflections on the ECM exhibition, Haus der Kunst, Munich, Nov 2012 – Feb 2013

Manfred Eicher, mastermind of ECM records, once said: ‘music does not have a location’.
But the music he recorded and produced has found a temporary location – the museum Haus der Kunst in Munich.
More than that, the music, the sound, the atmosphere, the aesthetics are filling the rooms, deeply captivating the visitors. 
Manfred Eicher opened his archives and presents documents, fotos, scores, cover designs and blueprints (many by the legendary designer Barbara Wojirsch). How beautiful, how dynamic the vinyl jackets have been, compared to the small formatted CD covers. Needless to say there is not one CD in the whole exhibition!
On many listening stations the visitors can enjoy ‚historical‘ and current recordings, on numerous displays and in special rooms documentary films and live recordings are shown. The music has been made visible and tangible.

In one of the first vitrines you can admire a mastertape, big as a cheesecake, containing 30 minutes of music by Keith Jarrett. A supreme symbol of quality in many ways.

Photo copyright Ralf DombrowskiIn the same room is the centrepiece of the whole exhibiton: a huge rack, stretching the wall from ceiling to floor, from left to right, containing about 1.000 original (!) mastertapes from four decades. An invaluable special exhibit with such an expressiveness. A cathedral of culture. With only one thing missing: a pew to knee down.

An idea comes to my mind. Maybe this wall will finally end up in a museum, as there will be no equipment any more to play the tapes. So they should be digitalized and they will find enough space on a harddisk, possibly an iPod. Now you could place the iPod before the wall as a symbol of technical development. But it would be like building a small chapel next to a cathedral. Both have the same purpose, but their quality is worlds apart.


For this reason this wall of mastertapes is a warning that we should not replace real values by virtual reality. The loss of quality is immense!

For me myself the ECM-Exhibition is also a time travel back to my own biography.  I know most of the record covers, many of them can be found in my collection. But how will younger people perceive the exhibition? Do they get nostalgic feelings? Do they see the exhibits as relics from a bygone era? Do they think “once again but never more”?
This would be a fatal effect.
Because, from my point of view, the consequence should be: ‘we must get back to this quality’. Not in a technical kind of view, as you never can turn back the clock. But in our approach to the music. The exhibition demonstrates to all of us, especially the ones who listen to music only via internet, that we must understand music as a work, not as a file that is floating online any time and everywhere. This is definitely not what Manfred Eicher meant when saying ‘music has no location’.

Even if music has no location, it definitely has a source and a target. Music is rising in the heads, hearts and hands of the musicians – and its aim is the soul of the listener. Music is transporting emotions and inner values.
Therefore the ECM-exhibition is a manifestation, demonstrating the human aspect and passion in the music. It’s effect should be at least to make the visitors curious to discover the diversity of ECM recordings with their own aesthetic and the highest possible sound quality. Like an archaeologist who hopes to find a hidden treasure.
And there are so many treasures…

Gerhard Rühl, November 26th, 2012
(excuse my English which is not my mother tongue)

Photo copyright Ralf DombrowskiP.S.: My deepest thanks to Okwui Enwezor and the team of Haus der Kunst, and to Manfred Eicher and the team of ECM Records for making this enlightening exhibition possible.

 

 

 

 

Photo credits: Ralf Dombrowski (3: Okwui Enwezor, Enwezor & Eicher, Mastertapes wall), Haus der Kunst (Mastertapes Detail), Prestel Verlag (Book), Gerhard Rühl/SHIROKKO (ECM display)

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