Ivanete

Mitte der 90er Jahre, als unser Interesse an brasilianischer Musik und unsere Abteilung mit brasilianischen CDs immer größer wird, stellt uns Manni, seit langem befreundeter Kunde, seine Freundin vor. Sie stammt aus Salvador de Bahia, studiert Pädagogik und heißt Ivanete da Hora Sampaio.

 

Ive spricht hervorragend Deutsch, denn Manni hatte gesagt: wenn Du nach Deutschland kommen willst, dann mußt du sofort die Sprache erlernen. So geht sie vom ersten Tag an in den Sprachkurs. Eines Tages frage ich sie, ob sie bei uns arbeiten will. Natürlich will sie das, als ich sie am Ende des ersten Arbeitstags frage, ob sie weitermacht, antwortet sie „freilich“.

Ivanete nennt mich ‚chefinho‘, kleiner Chef. Der Name ist mir bis heute erhalten geblieben. Silvia hingegen nennt sie ‚chefona‘. Große Chefin.
Ja, ich hatte es nicht immer leicht mit meinen Mitarbeiterinnen. Aber ich habe es immer genossen.

 

 

Ivanete wird ‚Ive‘ (iwi) genannt. Manchmal nenne ich sie auch mit etwas mahnendem Unterton ‚Nete‘ (needschi, mit drei Ausrufezeichen). Wenn sie es ganz doll treibt, gerne auch ‚bruxa‘ (bruscha), Hexe. Das kommt relativ häufig vor, denn Ive ist unglaublich schlagfertig und humorvoll, sowohl in Deutsch als natürlich auch in ihrer Muttersprache. Diese kann sie häufig benutzen, denn sie engagiert sich in der „Casa do Brasil‘ und bei ‚Kofiza‘, einer Einrichtung, die lateinamerikanischen Frauen behilflich ist, die Probleme mit ihren (deutschen) Männern haben. So ist das SHIROKKO recht oft gefüllt mit Ives Freundinnen und Kolleginnen, der Geräuschpegel macht ein Musikhören manchmal unmöglich. Wir stellen uns vor, daß wir ohne weiteres den Laden verlassen könnten und keiner würde es merken.

 

Ive stellt sich bald als zuverlässige und wichtige Kraft in unserem Laden heraus, wegen ihrer guten Sprachkenntnisse kann ich sie ganz selbständig und verantwortlich arbeiten lassen.

 

 

 

Nur manchmal höre ich ein „oh, meu Deus“, dann weiß ich, daß Ive ein Problem hat.
So ruft sie eines Tages „Chefinho, kannst du mal kommen, da ist so ein komisches Wort!“.
Auf einem Formular steht „Lastschrifteinzugsermächtigung“, vor solchen Wortmonstern hat Ive panische Angst. Ihr bisheriges Haßwort war „Geschwindigkeitsbeschränkung“.

 

Mit Olodum in der Muffathalle

Wir haben unglaublich viel Spaß und Freude mit Ive, sie bringt wortwörtlich Farbe in unseren Laden und in unser Leben, ihre Fröhlichkeit ist wie ein ansteckender Virus. Wir feiern tolle Feste (Festa do São João!) und besuchen Konzerte, fahren zum Festival nach Tübingen, essen zusammen feijoada, trinken ihre mitgebrachte cachaça, gehen zusammen in den Biergarten. Dort trägt Ive aber Handschuhe, weil die Gläser so kalt sind. Denn schon im Spätsommer leidet sie an der beginnenden Winterdepression. Dann beginnt die Zeit, in der sie drei Jacken übereinander trägt und Fellsohlen in die Schuhe stopft. Dann beginnt auch die Zeit, in der sie vermehrt darüber jammert, daß das Leben in Deutschland so trist ist und die Leute so traurig.

 

 

 

 

In solchen Momenten sehnt sie sich besonders nach ihrer Familie, nach der sprichwörtlichen brasilianischen Gemeinsamkeit. Ende 2001 verläßt sie uns schließlich nach mehr als fünf Jahren, um in ihre Heimat zurückzukehren. Ich glaube aber noch immer, daß sie auch Angst hatte vor der Euro-Umstellung. Schließlich hatte sie das schon einmal erlebt, mit der Umstellung vom Cruzeiro auf den Real. Eines Tages klebe ich mit dem Preisauszeichnungsgerät Etiketten auf CDs. Da sagt Ive „Chefinho, kannst du bitte aufhören!“. Ich frage „Was ist los, Ive?“ Sie sagt: „Immer wenn wir im Supermarkt dieses Geräusch hörten, wußten wir: es ist wieder alles teurer geworden“.

So haben wir viel von Ive gelernt, über brasilianische Mentalität und Realität. Ive wußte von den Problemen in ihrem Land, sie war sehr kritisch, aber auch stolz. Vor allem wehrte sie sich vehement dagegen, Brasilien immer nur auf Kriminalität, Drogenmißbrauch und Straßenkinder-Problematik zu reduzieren.

Ivanete hat aber auch gesagt, daß sie bei uns im Umgang mit verschiedensten Menschen manchmal mehr gelernt hat als auf der Uni. Deshalb war die Zeit mit ihr eine sehr lehrreiche, für beide Seiten. Vor allem aber war es eine schöne und unterhaltsame Zeit, eine ganz wichtige Phase des SHIROKKO.
Heute lebt Ivanete mit ihrem bezaubernden Sohn wieder in Salvador.

Muito obrigado, Ive! Um forte axé! E um beijo!

Verfaßt von Gerhard Rühl anläßlich Ivanetes Geburtstag am 21. März 2017

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