Caetano Veloso

Wenn man sechs Jahrzehnte lang Musik verschiedenster Genres gehört, genossen und bewundert hat, fällt es naturgemäß schwer, einen einzigen Lieblingsmusiker zu benennen. Einer, der bei mir ganz sicher in der allerersten Reihe steht, ist Caetano Veloso. Er fasziniert mich seit vielen Jahren durch seine Lieder, seine Vielseitigkeit, seine Haltung, und, vor allem, durch seine Menschlichkeit.

Veloso wird in Brasilien nur Caetano genannt, niemand würde ihn mit seinem Nachnamen nennen, im Gegenteil. Jorge Ben Jor bezeichnet Brasilien  in einem Lied als „terra caetano“, Kollege Djavan verwendet in seinem Song Sina sogar das Verb „caetanear“. Das allein zeigt schon den Status und die Wertschätzung, die Caetano Veloso in seiner Heimat genießt, er ist ein Idol und eine Integrationsfigur. Für jüngere Musiker auch eine Vaterfigur, wie die CD Axé Caê beweist, die 1996 von jungen Bands aus Bahia veröffentlicht wurde.

Caetano
Emanuel Viana Telles Veloso wurde am 7. August 1942 in Santo Amaro bei Salvador de Bahia als eines von sieben Kindern geboren. Seine vier Jahre jüngere Schwester Maria Bethânia ist eine vielgeschätzte Sängerin, die Grande Dame der brasilianischen Musik. Die Mutter, liebevoll Dona Canô genannt, war eine Art Nationalheiligtum, ehe sie an Weihnachten 2012 nur drei Wochen vor ihrem 106. (!) Geburtstag starb.

Maria Bethânia & Caetano

 

In Caetanos Biographie ist zu lesen, daß er durch João Gilbertos Song Chega de Saudade dazu inspiriert wurde, Musik zu machen. Welch ein Glücksfall für die Musikgeschichte!

In den sechziger Jahren zog es Caetano zusammen mit Bethânia in die Großstadt Rio de Janeiro.

 

 

 

 

 

1967 veröffentlichte er, zusammen mit Gal Costa, sein Debutalbum Domingo.

Der erste Song des Albums, Coração Vagabundo, sollte einer seiner größten Hits werden, er zählt wie viele andere der mehreren Hundert Lieder von Caetano (wie z.B. Terra, Sampa, Cajuina…) längst zum brasilianischen Volksgut.

 

Während der Militärdiktatur stand Caetano als kritischer Geist unter Beobachtung. Ende 1968 wurde er verhaftet und mußte, wie viele andere Intellektuelle, das Land verlassen. Chico Buarque suchte sich Italien als Exil, Caetano zog es, ebenso wie Gilberto Gil, nach London. Von der dortigen Kultur wurde er nicht nur musikalisch, sondern auch modisch beeinflußt.

 

 

 

 

Zurück in Brasilien galt Caetano Anfang der 70er Jahre als einer der Begründer der Tropicália-Bewegung, in der sich brasilianische Musik mit Pop und Rock vermischte. Den Namen Tropicália hatte er schon 1968 als Liedtitel gewählt. Zusammen mit Bethânia, Gil und Gal Costa bildete er Mitte der siebziger Jahre ein Quartett, das sich Doces Bárbaros, die süssen Wilden, nannte.

In den 70er und 80er Jahren veröffentlichte Caetano mehr als zwanzig meist vorzügliche Alben, es sollte aber bis fast Ende der 80er dauern, bis seine Karriere deutlich an Schwung gewann.

1987 erschien die CD Caetano mit dem großartigen Song ‚O Ciúme‘. Auf ihr zu hören unter anderem Carlinhos Brown, der später mit der Gruppe Timbalada den afro-brasilianischen Einfluß der Musik Bahias zu noch größerer Beliebtheit führen sollte, und der mit seiner eigenen Band als enfant terrible einen unwiderstehlichen funky Sound präsentierte.

 

 

 

1989 erschien dann das großartige Meisterwerk Estrangeiro. Es wurde produziert von Peter Scherer und Arto Lindsay, der zwar zur New Yorker Avantgarde zählt, aber in Brasilien aufgewachsen ist und die dortige Musik als seinen wichtigsten Einfluß bezeichnet. So gelang Caetano zusammen mit Lindsay eine fabelhafte Mischung, richtungsweisend und zukunftsorientiert, dennoch aber auf wundersame Weise „brasilianischer“ klingend als viele Werke der damaligen Zeit, als sich brasilianische Musiker noch (für meinen Geschmack zu sehr) am amerikanischen Markt orientierten.
In der Liste der Musiker, die bei Estrangeiro  mitwirkten, finden sich so illustre Namen wie Bill Frisell, Marc Ribot, Nana Vasconcelos – schon daraus wird deutlich, daß diese Aufnahme ein Schlüsselwerk geworden ist.

 

 

Fortan besannen sich viele Musiker auf brasilianische Wurzeln und auf regionale Eigenheiten – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung war die MPB (Música Popular Brasileira) in den 90er so Jahren vielfältig wie nie zuvor, und Caetanos Anteil daran ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Journalist Tarik de Souza schrieb „durch Caetano hat sich die brasilianische Szene komplett verändert. Sein Wirken ist revolutionär, es beeinflußt gegenwärtige und kommende Generationen.“ Und in der ZEIT war zu lesen: „Caetano ragt über Brasilien hinaus, holt Klänge von außen herein und verändert damit stetig sein Land“.

Caetano hat auch seine eigene Musik stetig verändert, er ließ sich nie auf eine Stilrichtung festlegen.  Alsbald baute er orchestrale Klänge ein, die vom vorzüglichen Cellisten Jaques Morelenbaum arrangiert wurden. Caetano schuf aber auch eine Hommage an die afro-brasilianische Musik Bahias und er formte zusammen mit Gil die großartige CD Tropicalia 2, auf der die beiden im Song Haiti  aktuelle gesellschaftliche Probleme anprangerten.
    

Dann folgte 1994, gewissermaßen als Kontrastprogramm, die CD Fina Estampa, auf der Caetano traditionelle spanischsprachige Lieder mit großer Rafinesse neu arrangierte und mit unwiderstehlicher Eleganz darbot.

Der sanfte Riese
So hat sich Caetano bis heute immer wieder neu orientiert. Er hat ebenso mit David Byrne ein wundervolles Duett gebildet wie mit der jungen Sängerin Maria Gadú. Er hat das Publikum stets an die Tradition der Música Popular von João Gilberto bis Chico Buarque erinnert – er hat aber auch stets den Weg in die Moderne beschritten, hat zusammen mit seinem Sohn Moreno elektronische Elemente in seine Songs eingebaut. Er hat bei kleinen Clubevents ebenso gespielt wie bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele oder, zusammen mit Daniela Mercury, beim Karneval in Salvador.
Und dabei ist Caetano stets er selbst geblieben, ein unverwechselbarer Typ, ein sanfter Riese, in Ehren und Würden ergraut , von immer noch großer menschlicher Ausstrahlung und Faszination.

Im Herbst 1996 absolvierte Caetano eine fünfwöchige Europatournee. Sie führte ihn in berühmte Konzertsäle wie die Royal Festival Hall in London, La Fenice in Venedig, den Palau de la Musica in Barcelona – und auch nach Tübingen. Dort war er ein paar Jahre zuvor bereits aufgetreten und fühlte sich offenbar gut aufgehoben.

Sein Konzert im Münchner Circus Krone war vielumjubelt und hochgelobt. So entschieden sich Freunde von uns, auch nach Tübingen zu fahren, allerdings nur unter der Bedingung, daß ihre Kinder sicher einen guten Platz bekommen würden. Sie baten mich, meine guten Kontakte zu nutzen – also rief ich in Tübingen an und stieß auf offene Ohren: beim Konzert war die erste Reihe fast nur mit Kindern besetzt.
Caetano war sichtlich begeistert und holte die Kinder auf die Bühne um mit ihm das Lied vom kleinen Löwen, „O Leãozinho“, zu singen. Welch nette Idee!
Nach dem Konzert sah ich, daß Caetano unter seinem weißen Hemd das T-Shirt seines Tübingen-Auftritts Jahre vorher trug. Offenbar hatte er dieses T-Shirt also extra in seinen Tourneekoffer gepackt in der Absicht, es an diesem Abend zu tragen!
Diese Episode ist ein schöner Beleg für Caetanos Menschlichkeit, sie zeigt, wie sehr dieser Künstler seine Musik nicht „abliefert“ sondern „lebt“? Der bei allem intellektuellen Anspruch die Bodenhaftung nicht verloren hat und gerade auch die „kleinen Dinge“ wahrnimmt und schätzt.

Dafür werde ich den unglaublich sympathischen Caetano Veloso ewig bewundern und lieben. Für seine Musik sowieso. Vor allem für die Zeile aus dem Lied Desde que o Samba é Samba: Cantando eu manda a tristeza embora.
Frei übersetzt: singend jage ich die Traurigkeit zum Teufel.
Gibt es ein schöneres Motto?

Am 7. August 2017 wird Caetano Veloso 75 Jahre alt.
Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank!

Gerhard Rühl, 7. August 2017

   Muito obrigado, Caetano !

abschließend noch ein paar links
Lesen Sie hier einen ausgezeichneten Artikel über Caetano und den Begriff „caetanear“.(https://www.austinchronicle.com/music/1999-07-02/522294/)

Verfolgen Sie Caetano auf der Website: www.caetanoveloso.com.br
bei facebook : https://www.facebook.com/FalaCaetano/
und im Blog http://caetanocompleto.blogspot.de

Und, für alle Caetano-Fans und solche die es werden wollen, habe ich hier  Videos von einigen meiner Lieblingslieder ausgewählt:

https://www.youtube.com/watch?v=FiL-nBI2CdISina
aufgenommen 1983 im Duett mit Djavan. Sollte Ihnen die Melodie bekannt vorkommen: sie ist nicht von Manhattan Transfer!
https://www.youtube.com/watch?v=FiL-nBI2CdI

 

 

Meia lua inteira
eine Komposition von Carlinhos Brown, aus dem Album Estrangeiro von 1989
https://www.youtube.com/watch?v=g-bfe50P7sg

 

 

Haiti
aus der CD Tropicália 2 von 1994,
eine Liveaufnahme mit Gilberto Gil und mit ziemlicher Power!
https://www.youtube.com/watch?v=msY-dNJlXWA

 

 

Pecado
In dieser Liveaufnahme von 1996 eines Songs aus dem Album Fina Estampa besticht Caetano durch seine Eleganz
https://www.youtube.com/watch?v=nc9xXWEj7kk

 

 

O Leãozinho
Das Lied vom kleinen Löwen, aufgenommen 2011 mit Maria Gadú
https://www.youtube.com/watch?v=A1WDI3vmbVI&list=PL4554925A18C17C79&index=2

 

 

Cajuina
ein sehr fröhliches Lied in einer sehr relaxten Version von 2012, man beachte den Cellisten Jaques Morelenbaum
https://www.youtube.com/watch?v=nmd7Nw9KqaE

 

 

Reconvexo
eines von Caetanos schönsten Liedern, geschrieben in den 80er Jahren, bekannt geworden in der Version von Maria Bethânia – hier in einer großartig zeitgemäß arrangierten Form von 2013
https://www.youtube.com/watch?v=FYZpzzbEvHo

 

Desde que o Samba é Samba
mit der erwähnten Textzeile“Cantando eu manda a tristeza embora”, die auch das Publikum hörbar begeistert
https://www.youtube.com/watch?v=dRUqLsdwIhA

One Thought to “Caetano Veloso”

  1. Edmund Klingshirn

    Ein grandioser Beitrag, Gerd!
    Werde mich da noch intensiv reinhören.
    Herzlichen Dank für diese Anregungen!
    Eddi

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